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Texte zur zeitgenössischen Fotografie und digitalen Bildkunst
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Leuners „fortlaufende Anmerkungen“ Nr.3, Frühjahr/Sommer 2004

von Thomas Leuner


Diese Ausgabe der „fortlaufenden Anmerkungen“ beschäftigt sich mit dem Thema der Fotografie in der „staatlichen Hochkultur“.


Fotografie im Museum – Stagnation im Umbruch. Ein Überblick


Immerhin, die zeitgenössische Fotografie hat es geschafft, in die heiligen Hallen der deutschen Museen einzuziehen. Wie selbstverständlich wurden im letzten halben Jahr in München, Köln, Hamburg und Berlin große Überblicks-ausstellungen über wichtige fotografische Positionen vorgestellt. Das ist sicherlich bemerkenswert, da noch bis 1990 der Satz galt, für Fotografie ist der richtige Ort das Kunstgewerbe- und das Fotomuseum.


Am ambitioniertesten zeigte sich die von Thomas Weski und Emma Dexter kuratierte Ausstellung „Cruel und Tender“, die zuerst in der Tate Modern in London gezeigt wurde. Sie stellt den Versuch dar, das Museum Ludwig Köln aus der miefigen Ecke der L. Fritz Grubert Sammlung zu befreien, die das kulturelle Feigenblatt der Fotokina darstellte. (29. November 2003 bis 18. Februar 2004)
Förmlich vor Ehrgeiz vibrierte die Ausstellung «A Clear Vision», die aus der Sammlung Gundlach zusammengestellt wurde und in den Deichtorhallen Hamburg den Einstand des Internationalen Hauses der Photographie feierte. Der Kunstgeschichtler Zdenek Felix war der Kurator. (Vom 29. Oktober 2003 bis 25. Januar 2004)
Groß in Szene gesetzt zeigte sich München mit „Jede Fotografie ein Bild, die Siemens Fotosammlung“ in der Pinakothek der Moderne, anlässlich der Übergabe der Sammlung an den Bayrischen Staat. Eingerichtet von der Fotoarchivarin Inka Graeve Ingelmann. (18. Dezember 2003 bis 07. März 2004)
Als Schlusslicht Berlin, wo große Fotografieauftritte nur durch Importe der Festspiel AG (Martin Gropiusbau) oder Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum möglich sind.
«Von Körpern und anderen Dingen» heißt der Titel des Spektakels im Deutschen Historischen Museum, das genauso verworren auftritt wie die verschlungenen Wege der Rezeption der Fotografie in Deutschland seit den 70er Jahren. Kein anderer verkörpert dieses Schlingern zwischen Größen-wahn und Minderwertigkeit so wie ihr Kurator Klaus Honnef. Er ist der „deutsche Fotospezialist“, der „unsere“ Fotografie seit dem Ende der 70er Jahre bei ihrem Gang zwischen biederer Amateurerotik, postmodernem Bilder-Basteln und dokumentarischer Autorenfotografie begleitet hat. (19. November 2003 bis 16. Februar 2004)


Also: viermal große Auftritte für die Fotografie in unmittelbarer zeitlicher Nähe. Sicherlich ein Zufall, aber auch ein besonderes kulturelles Ereignis, das gerade dazu herausfordert, den Stand der musealen deutschen Fotokultur kritisch zu begutachten.


Was mittlerweile klar ist: Der Boom der Fotografie in den 90er Jahren und der völlig überraschende Erfolg der im Inland kaum wahrgenommenen deutschen Fotografie hat zu fieberhaften Aktivitäten der Museen geführt. Das völlige Fehlen einer eigenen Sammlung in der traditionellen deutschen Museums-landschaft löst allerorts große – zumindest verbale – Aktivitäten aus.


Die Schaumschläger par excellence sind die Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin. War es am Anfang noch das Deutsche Centrum für Photographie im Stülerbau, so wurde jetzt ein Mini-Museum geboren: Über dem Newton Museum im Gebäude Jebensstraße 2 wurde im ehemaligen Kaisersaal das Berliner Fotomuseum mit Arbeiten von Raimund Kummer eröffnet. Und wie sieht dieser Saal aus? Wie Berlin: Ein ehemaliger Festsaal von 665 Quadratmetern mit einer Raumhöhe von elf Metern, im Zweiten Weltkrieg zerstört, danach nur mit den Rohmauern wiederhergestellt. Nackte Ziegelwände mit sichtbarem Dachstuhl, Orte, die es in Berlin wie Sand am Meer gibt. Jeder Kommentar ist hier überflüssig.


Der Trend für die Fotografie in diesem Jahrzehnt wird von der Bevölkerung vorgegeben: Die Sucht nach Bildern von sich und den anderen ist unge-brochen und nimmt mit Handykamera und Mini-Videoclips neue Dimensionen an.
Auch wenn sich der von der Moderne gebeutelte Kunstbetrieb ein Päuschen beim geklonten Leipziger Mal-Allerlei nimmt, ist das nur das Gebell der Hunde, die Karawane zieht weiter. Zeigen doch die digitalen Folterpornos aus Abu Ghraib blitzartig, dass dank dem Internet eine neue Ära der Bilder-propagandaschlacht begonnen hat. Und die kommt, wie immer, von unten.



Die Events und ihre Auftritte


Ernüchterung stellt sich bei den Titeln ein: «Jede Fotografie ein Bild» – ja und? Oder „Von Körpern und anderen Dingen“ – aber was ist denn kein «Ding»? „Eine klare Vision“, das Menschenbild von Herrn Gundlach? „Grausam und zärtlich“ – zwar irgendwie originell, aber doch Poesiealbum. „Cruel und Tender“ ist der Titel eines antiken Schockers des Theaterautors Luc Bondy, der gerade mit großem Erfolg in London uraufgeführt wurde.
Was die Banalität der Titel ahnen lässt, bestätigt sich bei den Ausstellungs-publikationen. Die Schläuche sind groß – vier schwergewichtige Kataloge mit aufwendigem Druck –, der Wein aber ist dürftig und mit altem, wieder-gekäutem Inhalt.
Es ist schon erstaunlich, mit welchem ungebrochenen Selbstvertrauen Banalitäten und kunsthistorische Lehrbuchweisheiten auf Hochglanzpapier in gespreiztem Layout präsentiert werden. Niemand würde es Verübeln, wenn solche Publikationen aus eigener Tasche bezahlt werden – jeder Galerist, jeder Künstler muss das. Wer Katalogvorworte als lästige Pflichtübung auffasst, vergibt die Chance der Kunstvermittlung, des Diskurses und der wissenschaftlichen Aufarbeitung – genuin Aufgaben der vom Steuerzahler finanzierten Kultur.
Hier als negatives Beispiel der Beitrag von Ulrich Bischoff in dem Katalog «Jede Fotografie ein Bild», Pinakothek der Moderne München: «In allen vier Bildgattungen – Landschaft, Stillleben, Portrait und Historie – kommt der Künstler sowohl im Ölgemälde als auch im Medium Fotografie der von Wilhelm von Humboldt so einfach und unmissverständlich formulierten Aufgabe nach: Die allgemeine Aufgabe aller Kunst ist die Herstellung eines Bildes von der Wirklichkeit. Das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln. Insofern kann man auch die Kunst der Fotografie neu formulieren: Aus der Kunst des Aufzeichnens mit der lichtempfindlichen Platte ist die Kunst der Umformung geworden. Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit tastet sich das Auge in Analogie zur Hand der Blinden am Gegenstand, am Leben möglichst nahe, ‚close to life’, entlang, um eine ungefähre Vorstellung vom Erahnten, Ertasteten zu erlangen. Unter geschichtlichen Gesichtspunkten ist Adornos phänomenologische Beschrei-bung des Kunstwerkes von Gewicht: Wesentlicher Faktor des Bildes ist das Gewordensein durch Umformung. Die Erfassung des Wirklichen und damit der Qualität des Bildes muss sich aber am Grad der Zartheit messen lassen, mit der der Annäherungsprozess erfolgt ist: Wahrhaft durchgebildet sind Werke, in die die formende Hand dem Material am zartesten nachtastet.» (Seite 31 des Katalogs)


Der Text ist deutlich. Kunsthistorisches Gedankengut aus den verschmockten 70er Jahren, die Fotografie als ungebrochene Fortführung der gegen-ständlichen Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts, und: Hier schreibt jemand über eine Sammlung, deren Konzept er ablehnt.
Der in der Siemenssammlung wesentlich von Thomas Weski geprägte Samm-lungskern macht sich die Position der «Straight Photography» zu Eigen. Und die besagt: „direkt fotografieren“ und nicht die Kunst erst dann anfangen lassen, wenn das auf der Fotoplatte Aufgezeichnete durch die „Kunst der Umformung“ neu formuliert wird.
Ulrich Bischoff im Klartext: Ihm gefällt die digital bearbeitete Fotografie, das Inszenierte, möglicherweise noch die experimentelle Fotografie – also alles, wo keine „Maschine“ direkt am Werk ist. Allein der Titel des Aufsatzes von Thomas Weski in dem Katalog zur Ausstellung «How you look at it» von 1996 – «Gegen Kratzen und Kritzeln auf der Platte» – zeigt deutlich, welche Welten hier aneinander vorbeireden. Was hat der Text von Bischoff in dem Katalog über die Siemenssammlung zu suchen?


Peinlich wird es für Ulrich Bischoff, wenn er mit Bildern des Dresdner Malers Wilhelm Trübner, mit Postkartenmotiven von Van Gogh und Caspar David Friedrich argumentiert und diese Bilder auch noch im Katalog reproduzieren lässt. Es gibt eine Mindestanforderungen an Texte über Fotografie – dank Amerika auch nachzulesen, zum Beispiel in: „Criticizing Photographs – an introduction to understand images“ von Terry Barret, Ohio State University (ISBN 0-8748-906-3). Das sind 140 Seiten Handwerk. Und das kann man erwarten. Wie das beispielhaft angewandt wird zeigt Peter Galassi mit „«Gurskys Welt», Katalog Museum of Modern Art, New York, 2001 (ISBN 0-87 070-016-2, auch in deutscher Sprache).



Dort, wo die Autoren um ihr Leben schreiben, bei den Ausstellungs-rezensionen, sind die Beiträge im Schnitt qualifizierter.


Natürlich das übliche Lohnschreiber-Geschwafel, zum Beispiel Marion Lesek in der Kunstzeitung 12/03 über „Cruel and Tender“. Boris Hohmeyer in Art 11/03 und Alfred Nemeczek in Art 12/03 über „Von Körpern und anderen Dingen“ (PR im Doppeleinsatz) und Andrea Lange in Photonews 7/04 über «Jede Fotografie ein Bild».
Dann die «Besserwisser-Kritiken», deren Kritik an einer kuratorischen Arbeit darin besteht, besser zu wissen, welcher Künstler unbedingt noch hätte hereingenommen werden müssen und wer ungedient hätte hinausgeworfen werden können. Zum Beispiel: Kerstin Stremmel in Photonews 2/04 über „«Cruel and Tender», die doch tatsächlich behauptet, die inszenierte Wirklich-keit eines Jeff Walls würde fehlen. Kaspar König habe ja gerade «Women and her doctor» angeschafft, und das hätte doch gut in die Show gepasst. Zwar aufrecht und wacker für die Fotografie gestritten, aber in der Tendenz ähnlich: Hansgert Lambers in der Kunstzeitung 3/04 über «Von Körpern und andere Dingen».


Anregende Sätze gibt es immer, wenn der Verriss ansteht. Zum Beispiel Ronald Berg in Zitty 27/03 zu »Von Körpern und anderen Dingen»: Wer nicht träumt, erklärt wie Wolfgang Tillmans die Alltagskultur zur Kunst. Oder Edgar Schwarz in Kunstforum 166, S. 394: die Inszenierung des Realen“ (auch als Begriff der Echtzeit) und seine nachträgliche Aneignung und Neubesetzung durch die Alltagsrezeption, und Walead Beshty in Texte zur Kunst Nr. 51, S. 167 : William Egglestons fotografische Essays als Befindlichkeit der Süd-staaten-Aristokratie in einer Phase tief greifender Umwälzungen (Bürger-rechtsbewegung der 60er Jahre) über «Cruel and Tender». Sowie Hansgert Lambers in dem oben erwähnten Artikel: Die Ablichtung von Inszenierungen ist doch keine inszenierte Fotografie!, und Brita Sachs in der FAZ vom 24/02/2004 über «Jede Fotografie ein Bild»: Eine Eigengesetzlichkeit der fotografischen Bildsprache in Abgrenzung zur Malerei wird nur in der Abtei-lung «Historie» sichtbar, dem Sammelbecken für narrative und historische Konzepte.
Da deuteten sich die zentralen Fragen an: «Wo steht die Fotografie im Zeitalter der globalen Medienkunst?» Es reicht eben nicht aus, mit einem Interview wie in «A clear Vision» den Sammler und seinen Kurator zu fragen: »Wie haben sie denn das gemacht?» Herr Gundlach ist nicht Hitchcock und seine Interviewpartner sind nicht Truffaut.
Überhaupt dieses Interview! Sammler Gundlach und Kurator Felix werden von den Mittdreißigern Ingo Taubhorn und Ruppert Pfab «bestichwortet» befragt ist wohl übertrieben. – O-Ton: «Herr Felix, was ist der Sammler, die Sammlerin für ein Typ Mensch?» Oder: »Wie würden denn sie eine eigene Sammlung auf-bauen?» Pfab an Gundlach: «Sie haben eine bedeutende private Photo-sammlung. Was treibt Sie an zu sammeln? Sie fahren auf Messen, sprechen mit Künstlern und Galeristen. Was ist Ihre Motivation, immer weiterzu-machen?» Gundlach: «Das ist schwer zu beschreiben. Ich habe schon oft gesagt: Schluss, aus!»
Was sich im ersten Moment ganz lustig liest und viel über die Eitelkeit der beiden Alt-68er aussagt, ist eigentlich deprimierend: Rupert Pfab hat 2001 eine der ganz wenigen deutschen Monografien im Bereich der Fotografie vorgelegt, die lesbar und mit intimer Kenntnis des Mediums geschrieben sind. Es handelt sich um seine Dissertation «Studien zur Düsseldorfer Photo-graphie« (Weimar VDG, 2001, ISBN 3-89739-201-1), in der er die wichtigsten Düsseldorfer Fotografen eingehend und differenziert befragt. Warum ist er nicht der Kurator?
Um noch einmal nachzuhaken: Auf Seite 35 des Hamburger Katalogs ist unter dem Titel «Kunstkammer I, Bild #8, Sammlung F. C. Gundlach» eine Fotografie von Ingo Taubhorn zu sehen, die ein Stillleben mit Büchern und Fotokisten zeigt – wohl ein Raum bei Gundlach, in dem seine Fotosammlung aufbewahrt wird. Man traut seinen Augen nicht: In den Originalkartons für Fotopapier sind Sammlungsbilder verstaut! Bekanntermaßen sind diese Schachteln zur Archivierung von Fotografien wegen der enthaltenen Chemi-kalien völlig ungeeignet.



Die Bilder


Das Herzstück des Katalogs bilden die Reproduktionen der Fotografien.

Die Anforderungen sind klar: Wegen der Nähe zum Druck können gut repro-duzierte Fotografien durchaus den Eindruck des Originals vermitteln. Natürlich gelingt das besonders bei Bildern, die vom Fotografen bereits im Grafikformat gedacht waren und deren Anordnung der Bilder die medialen Regeln des Buchs berücksichtigt. Diese fotografische Buch- und Katalogkultur geht auf die Kunstfotografie-Zeitschrift Camera zurück, deren Herausgeber Allen Porter in den 60er Jahren die Idee der «Zeitschrift als Foto-Galerie» entwickelte. Der entscheidende Durchbruch gelang mit der Duplex-Drucktechnik, die im Gegensatz zu dem früher üblichen Kupfertiefdruck die Aura der modernen Print-Technik hervorrufen konnte.
Diese mediengerechten Reproduktionsmöglichkeiten sind nur zum Teil genutzt worden. Für den im Hatje und Cantz Verlag erschienenen Katalog über „Cruel und Tender“ gilt dies für die Farbtafeln. Der im Dumont Verlag erschienene Katalog von «Jede Fotografie ein Bild» überzeugt nur mit den Schwarz-Weiß-Reproduktionen. Die anderen Kataloge verharren auf dem gestalterischen und drucktechnischen Niveau eines Sachbuches.



Vor Ort


Köln:


Für «Cruel und Tender» war die Publikumsresonanz, ähnlich wie in London, überwältigend und machte ordentlich Punkte für die Statistik des Museums Ludwig. Dies liegt sicherlich daran, dass in großzügigen Räumen in klarer, sparsamer Hängung fast ausschließlich Fotografien über Menschen gezeigt wurden. Die Auswahl der Fotografen entspricht der für Thomas Weski bekannten Liste, die er schon seit seiner Kuratorzeit am Sprengel Museum in Hannover bespielt: Von Robert Adams bis Garry Winograd, Künstler der «Straight Photography» und ihre deutschen Pendants. Es scheint die Lebens-aufgabe von Weski geworden zu sein, diese Position einer «wirklichkeits-orientierten» Fotografie der Öffentlichkeit einzuhämmern. Daran entzündet sich aber auch seit Jahren die anhaltende Kritik an seiner Kuratortätigkeit. Siehe: Peter V. Brinkemper in Photonews 11/03, Seite 2, zu »Von Körpern und anderen Dingen».
Der Eindruck von der Dominanz dieser Position dürfte aber ihre Ursache im Fehlen anderer profilierter Kuratorenpersönlichkeiten der zeitgenössischen Fotografie haben.
Als negatives Beispiel sei hier die Nachfolgerin von Thomas Weski am Sprengel Museum in Hannover – Inka Schube – genannt. Ein Ausschnitt aus ihrem ins Internet gestellten Vorwort zur aktuellen Ausstellung Zoltán Jókays belegt dies eindringlich: «Die Bildsprache Zoltán Jókays liegt in einem vor-modernen historischen Referenzraum, auch wenn der Fotograf sich auf Vorbilder wie August Sander oder Diane Arbus bezieht. Sie ist von einer altmeisterlichen, auch alttestamentarischen Ausdrucksintensität, die auf das Barock, auf Maler wie Raffael verweist. Dazu bedarf es keiner opulenten Formate, keiner nachweislich der christlichen Ikonografie verpflichteten Bildzeichen: Es ist eher die Art, wie Jókay menschliche Seinszustände kondensiert. Man kann diese Arbeitsweise, bezogen auf seine Vorfahren, auf Sander und Arbus, als Schritt ‚zurück nach vorn’ bezeichnen. Nie seziert er seine ‚Modelle’ nach den Spielregeln der kritischen Moderne. Damit bleiben sie in einem fast romantischen Sinne immer Menschen in einem intimen Moment der Vergewisserung von Identität.»
Das ist Betroffenheitslyrik, aber kein kuratorischer Text. Dem Fotografen hilft der Text auch nicht, er kann nur das Gegenteil bewirken.


Worum es eigentlich geht, ist die Vorstellung eines Dokumentarfotografen der Generation der neuen deutschen Fotografie aus den 90er Jahren. Die Be-sonderheit dieser Gruppe von Porträtfotografen ist die Dominanz eines zurückgenommen Stils in leichter, narrativer, reportagehafter Art, der weich und mit pastellenen Tönen bewusst regionale Themen aufgreift. – Bernhard Fuchs, Albrecht Tübke, Göran Gnaudschun, Jitka Hanslová, um nur einige Namen zu nennen. Dies als deutliche Abgrenzung zu dem Stil der Becher-schüler, die sich als Werbetrommler für Globalisierungsgewinner haben missbrauchen lassen. Vorbilder sind bewusst mit introvertierten Bildern arbeitende amerikanische Fotografen der «New Topographics», besonders Robert Adams und deren Nachfolger in der Farbfotografie. Alle Beteiligten verbindet eine ostelbische Biografie mit fotografischer Sozialisation in der Nachwendezeit im Westen.


Aber zurück zu den Anforderungen an einen zeitgemäßen Kurator für Fotografie.
Die «Künstlerliste» ist Autorenrecht des Kurators, also sakrosankt. Ob die Bilder dann überzeugen, ist eine andere Sache. «Geheimhaltungsstufe1» gilt aber immer noch bei der Auswahl (Wahl ist wohl das falsche Wort) des Kurators und dem damit vorgelegten Konzept.


Jedoch gewinnt eine immer größere Bedeutung der öffentlich kommunizierte Ausstellungsprozess. Als Beispiele seien hier nur die Dokumenta 10 und 11 erwähnt. Es geht darum, die Prozesse des Ausstellungswerdens nach außen transparent zu machen. So wird die Ausstellungsfindung Teil des öffentlichen Veranstaltungsdiskurses, an dem das Publikum teilnehmen kann.


An solchen Erfahrungen und Versuchen fehlt es im Bereich der Fotografie völlig.
Dies ist auch bei Weski so. Dieses Fehlen einer öffentlichen Kommunikation ist einer der Gründe, warum Weski als Kurator Einseitigkeit bei der Auswahl der Künstler vorgeworfen wird. Der Ruch des monomanen Förderers einiger weniger Künstler lässt sich nicht so einfach abschütteln.


Hintergrund ist natürlich die rasante Entwicklung der Fotografie, bei der es außer den eigenen Beobachtungen und deren theoretischen Würdigungen keine Anhaltspunkte gibt. Da ist der gelernte Fotograf Thomas Weski nicht in seinem Element. Seine Theorie der «wirklichkeitsbeschreibenden Fotografie» ist nur ein Zeichen von Unsicherheit, mit neuen fotografischen Positionen umzugehen. Ein inszeniertes Bild kann «wirklichkeitsnäher» sein als ein aus der Beobachtung heraus fotografiertes. Beispiele: Boris Mikhailov – siehe dazu meine Anmerkungen zur Ausstellung «Corpus Christi» – oder August Sander. Sind seine Bilder nicht inszenierte Porträts von ausgewählten Mo-dellen? Würde man nicht heute sagen, Sander sei der Erfinder der durch die Werbung populär gewordenen «People Photography»? Ist nicht das digitale Basteln von Andreas Gursky «Foto-Grafik» im realistischen Stil ohne «Wirklichkeitsnähe»? Zum Beispiel sein in der Ausstellung gezeigtes Bild «Greely» aus dem Jahre 2003?


Wesentlicher erscheint für mich aber eine methodische Kritik an Weskis Kuratortätigkeit: Die einzelnen Künstler werden losgelöst von ihrem histo-rischen und gesellschaftlichen Kontext gezeigt und auf scheinbar subjektive Künstler/Fotografen-Positionen reduziert. Ein Referenzrahmen von einigen Künstlern zur Erklärung der fotografischen Wirklichkeitserforschung im 20. Jahrhundert erinnert fatal an eine Geschichtsschreibung, die die Abfolge der Zeiten mit Herrschern und bedeutenden Personen beschreibt. Aktuelle Diskussionen über Kunst, Kultur und den Gesellschaftsbegriff gleiten an dieser «naiven» Weltsicht ab.



Nachgefragt


Museum Ludwig
Die Konfrontation im Kölner Milieu gegen moderne Kunstfotografie hat den Kurator Weski nach München flüchten lassen. Ein Todesopfer gab es zu beklagen, der kaltgestellte Mitkurator Reinhold Misselbeck starb an Herz-versagen. Aber seine Witwe, Inge Misselbeck, war rächend zur Stelle und hielt die Fahne hoch, für: das neue kulturelle Feigenblatt der Fotokina, die Kunstfotomesse photofaircologne, natürlich zusammen mit dem greisen L. Fritz Gruber, dessen Sammlung schon Reinhold Misselbeck im Museum Ludwig betreut hatte. Ja, so könnte ein Märchen enden, eine Oper beginnen, aber leider hebt sich hier nur der Vorhang für ein neues Stück des Kölner Fotoklüngels.



Hamburg


Internationale Haus der Fotografie


In «A Clear Vision» beherzigt die Sammlung Gundlach den Grundsatz, dass die qualitativ besten Arbeiten entstehen, wenn die Künstler kurz vor ihrem Durchbruch sind. Der Ehrgeiz ist brennend, die ersten Erfahrungen sind da, alle Kräfte sind gesammelt. Diese Arbeiten in meist kleineren Formaten sind zwar nicht so «repräsentabel» wie spätere Arbeiten, die sich mehr an der Ver-kaufbarkeit orientieren, haben aber die Unmittelbarkeit des Neuen und Ge-wagten an sich. Otto Steinert mit sehr unbekannten Porträts aus den Jahren 1949 und 1952; Diane Arbus mit Abzügen von Anfang der 60er Jahre – ganz modern wurden die Barytabzüge frei zur Welligkeit des Materials stehend in einem tiefen Rahmen präsentiert; Fischli und Weiß von 1985 in Schwarz-Weiß; der Maler Albert Oehlen mit Stoppschildern; der amerikanische Mode-fotograf Erwin Blumenfeld mit Zeichnungen aus den 20er und Porträts aus den 30er Jahren – die Liste ließe sich mühelos weiter fortsetzen. Hier ist die Handschrift eines Sammlers zu erkennen, der als Modefotograf und – das ist deutlich sichtbar – als Schwuler ohne Eitelkeiten gesammelt hat. Dieser ein-drucksvolle und berührende Teil der Sammlung wird leider von einem großen Konvolut von Bildern beeinträchtigt, bei dem der Sammlerehrgeiz erkennbar wird, das Lexikon für zeitgenössische Fotografie zu bebildern. Da hängt dann eben auch zweite Wahl: Cindy Sherman in Farbe von 1994, neue Fischli und Weiß im Großformat, ein verwaschener Tillmans aus dem Jahre 2000, Rineke Dijkstra von 1999, glatte Michael Najars u. a. Das ist schade. Zurück findet die Sammlung aber auf ihrem authentischen Weg bei der osteuropäischen Fotografie, zu der, auch wenn das heftig bestritten wird, die realistische Foto-grafie der ehemaligen DDR gehört. Ob Evelyn Richter, Gundula Schulze oder Antanas Sutkus – hier ist mit der naiven Seele des Fotografen gesammelt worden, mit der Intimität des Wissens, wie Bilder durch die Kamera empfun-den werden. Bleibt nur anzumerken, dass die Hängung von Zedenik Felix frei mit den unterschiedlichen Positionen der Fotografie umgeht, aber nicht wie bei Honnef in Berlin ein «Bildermatsch» entsteht. Und doch scheint über dieser Ausstellung der Hauch des Angestrengten zu liegen. Zu deutlich geht es darum, die Sammlungslücke in der Fotografie für Hamburg – und natürlich auch für Deutschland – zu füllen.


Anmerkung:
Gut lässt sich das mit einem Blick nach nebenan verdeutlichen. Schräg gegenüber dem Eingang zur Ausstellung «A Clear Vision» wurde zur gleichen Zeit auch die Ausstellung «Corpus Christi – Christus Darstellung in der Photo-graphie von 1850-2001» gezeigt. Diese Wanderausstellung ist ein hochka-rätiges Projekt der Fotografie-Sektion des Israel Museums Tel Aviv und eine Überraschung. Tatsächlich geht es gar nicht um eine fotohistorische Schau über die Darstellung von Christus, sondern – und das ist in der Konsequenz und mit der Fülle des Materials neu – um eine Untersuchung über „die Foto-grafie und das Pathos“. Schlagartig wird deutlich, dass Pathos, Theatralik, Mystik, Kitsch, Sentimentalität und Trash wesentliche Merkmale der Fotokultur sind – und das seit ihrer Geburt. Dabei ist das «Genre» in der Fotografie kein Ordnungskriterium, sondern verstellt den Blick: Ein im Schlamm Vietnams im Todesschock hockender GI ist genauso pathetisch inszeniert wie: Frau Abramovic auf ihrem Schimmel, die symbolistisch drapierten Familienmitglieder der Margarete Cameron, die Mongoloiden beim Abendmahl Leonardos im Werbekontext. Dieses schonungslose kuratorische Konzept lässt zum Beispiel Boris Mikhailovs Ausgestoßene endlich zu dem werden, was sie sind: Hallu-zinationen über das zwischen den Zivilisationen taumelnde Russland.
Leider wird das Ausstellungsthema «Corpus Christus» wörtlich genommen und protestantisch korrekt zum Thema „religiöser Fundamentalismus“ umfunkt-ioniert. Also kein Spaß mehr, hier wird nicht gelacht und mit Schadenfreude über Kitsch und Kunst hergezogen, nein, das Begleitprogramm droht:


Immer sonntags (außer am 1. Februar und am Ostersonntag) um 14.00 Uhr: Theologische Führung durch die Ausstellung mit Pastor Alexander Röder aus Hamburg, Leiter des Kirchlichen Kunstdienstes der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche.
Oder:
Fr., 26. März 2004, 16.00 Uhr bis 17.30 Uhr: Sonderführung
Ein Bild von einem Mann – Jesus Christus zwischen Bibel, Kunst und Heute
Eine religionspädagogische Führung für Jugendliche, Eltern und Lehrer durch die Ausstellung „Corpus Christi“ mit Inge Hansen und Andreas Schultheiß vom Pädagogisch-Theologischen Institut.



Nachgefragt


Hamburg
Das Internationale Haus der Photographie


Der Ehrgeiz treibt voran. Das ist sicherlich ein gutes Zeichen. Ein spezifisch hamburgisches Problem zeigt sich jedoch im Gemisch von kulturell interessier-ten Handwerks-Fotografen und den intellektuellen Standards der bildenden Kunst. Da kommt es manchmal sehr naiv daher, wenn, wie im Symposium (!) über «Farbe in der Fotografie», die derzeitigen Standards der Magazin-Fotografie als künstlerische Positionen vorgestellt werden, launig über das Thema, «wir sind alle einmal schwarz-weiß gewesen» fabuliert wird (Ulf Erdmann Ziegler) und man sich nach dem „Streitgespräch“ (worüber?) bei der «Grillparty» auf dem Deichtorplatz trifft. Das klingt alles sehr nach einem Abendprogramm für die lauen mediterranen Nächten des Festivals von Arles.




Berlin


«Von Körpern und anderen Dingen»


Die äußeren Daten sind unglücklich. Das Deutsche Historische Museum gibt das Genre vor: Deutsch und Kunstgewerbe. Der Kurator beschränkt sich noch selbst: inszenierte Fotografie zum Thema «Körper» im Zeitraum von 1920 bis zur Gegenwart. Das hätte eine interessante Ausstellung ergeben können, die aber einen hohen Rechercheeinsatz erfordert hätte. Das Thema ist immens, geht es doch durch viele Genres: Mode, Sport, Porträt, Akt und Wissenschaft. Und was macht der Kurtor Klaus Honnef damit? Die Begriffe werden aufgeweicht: Aus Körper wird mit dem Zusatz «und andere Dinge» alles, was man fotografieren kann. Der Begriff «inszeniert» wird nur gegen die journalistische Fotografie in Stellung gebracht. Fotokünstler sind die, die nicht journalistisch arbeiten und sich als Kunstautoren definieren. Und wer ist das: Die von Klaus Honnef und einem Teil der Deutschen Fotografieszene entwickelte „autonome deutsche fotografische Kunst“. Die Namensliste ist vorgegeben und wird nur im Zeitgenössischen variiert. Also: Blossfeld, Sander, Renger-Patsch; Riefenstahl, List und Subjektive Fotografie; Becher, Blume, Sieverding – und dann wird’s immer diffuser: Martens, Schmitz, Mayers u. a. Dieser Kanon wird seit den 70er Jahren von den Anhängern einer autonomen Entwicklung der Fotokunst in den unterschiedlichsten Variationen propagiert. Mal heißt die Ausstellung «die Macht der Bilder», mal wird wie hier das Material im Sinne von «Ding» vorgestellt. Dahinter steht die Lobby der deutschen fotografischen Sammlungen, die sich auf die Sicht von Otto Steinert beruft. Es wird von einem deutschen Sonderweg ausgegangen, dessen Entwicklung sich über das Ästhetische formuliert. Zum Beispiel: SK Sammlung Köln (www.sk-kultur.de), Fotografische Sammlung Essen (www.museum-folkwang.de), Berlinische Galerie (www.berlinischegalerie.de). Auch die meisten Auktionen über klassische Fotografie werden durch diesen Kanon bestimmt. – Bassenge (www.bassenge.com), Dietrich Schneider-Henn (www.schneider-henn.de) u. a.
Die erbitterte Kritik, die dieser Ausstellung von Klaus Honnef entgegen schlug, beruhte in erster Linie darauf, dass sich der Titel der Ausstellung in keiner Weise mit dem hinlänglich bekannten Inhalt deckt. Aber es zeigt sich auch deutlich, dass die Position einer autonomen deutschen Fotokunst heute nicht mehr widerspruchslos hingenommen wird und bei der jüngeren Gene-ration auf schlichtes Unverständnis stößt.
Natürlich bleibt die Frage, warum ein so erfahrener Ausstellungsmacher und Fotokritiker wie Klaus Honnef sich so ins Abseits manövriert. Dies ist schwer verständlich, weil er einer der ganz wenigen Fachleute für Fotografie ist, die sich lange Jahre intensiv mit der zeitgenössischen bildenden Kunst aus-einander gesetzt haben. Eine Qualifikation, die den meisten Fotohistorikern und Kritikern abgeht. Eine Erklärung kann hier nur angedeutet werden. Die wie Klaus Honnef gebildeten Fotokritiker der frühen 68er-Generation beziehen ihre theoretische Grundlage immer noch aus der deutschen Sicht auf die Fotografie, die die Deutsche Fotografie des 20. Jahrhunderts als Handwerkskunst wahrnimmt – nicht zu unrecht, die anderen hatte eben keine Chance. Nach dieser Lesart gibt es keine Fotografen, die Künstler sind. Wenn sie im Rahmen des Mediums bleiben, sind sie zum Kunstgewerbe verdammt. Künstler, die mit Fotografie arbeiten, machen Kunst, auch wenn ihnen die medialen Kenntnisse fehlen. Der Stand der Diskussion Ende der 70er Jahre ist ausführlich nachzulesen in: «Photographie als Medium. 10 Thesen zur konventionellen und konzeptionellen Photographie» von Rolf H. Krauss (Verlag A. Nagel, 1. Auflage 1979, ISBN 3-89322-707-5).
Deutlich wird hier, dass für gebildete Zeitgenossen die deutsche handwerklich orientierte Fotografie in einem bedrückenden Maße bildungsignorant war (und teilweise noch ist). Man muss nur die Äußerungen von Renger-Patsch lesen, um dies nachvollziehen zu können. Intelligente und in der Zeit stehende Fotografen des späten 20. Jahrhunderts wurden daher zu „konzeptionellen Künstlern, die mit Fotografie arbeiten“, umgepolt – wie das Ehepaar Becher.
So wird auch erklärlich, warum „journalistische Fotografie“ bei Klaus Honnef keine Kunst ist, aber jede Inszenierung zur Kunst wird, auch wenn die Arrangements nacktes Kunstgewerbe sind. Zum Beispiel die Exponate einer Frau Schmitz. Der Umbruch der 80er Jahren hat dieser mehr auf Beobacht-ung als auf Analysen beruhenden Theorie den Boden entzogen.
Siehe zu dem Umbruch: Esther Ruelfs, «Werkstatt Wirklichkeit. Stipendiaten aus zwanzig Jahren ‹Zeitgenössische Deutsche Fotografie› », in: Katalog über die Stipendiaten der Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Museum Folkwang, Steidl Verlag 2003 (ISBN 3-88243-880-0).
Dies ist aber nicht Allgemeingut. Vielmehr greifen gerade Ausstellungsmacher und Kuratoren, die die Modernität des Mediums abstreiten, auf diesen Ansatz in neuen Variationen zurück. Aktuelles Beispiel: Maria de Corral (Jahrgang 1942) hat innerhalb von zwei Jahren mit erheblichen Mitteln die Sammlung „Colección de Fotografía Contemporánea de Telefónica“ aufgebaut, die das kulturelle Aushängeschild der spanischen Telefongesellschaft für ihre internationalen Aktivitäten sein soll. De Corral: «Die Sammlung von Telefónica konzentriert sich daher weniger auf Fotos als auf Künstler, die die Fotografie benutzen, jedoch nicht als dokumentarisches oder narratives Medium, son-dern als Medium, um ein autonomes Bild oder einen autonomen Ausdruck zu schaffen.»Entscheidendes Kriterium sei dabei, dass «die Fotografien physische Präsenz für den Betrachter haben» – sprich: ab einem Format von 1m x 1m.
Interview mit Claudia Stein in: Photonews Nr. 2/04 (www.fundacion.telefonica.com/arte).
Dabei sind einer der Schwerpunkte der Sammlung die Aufnahmen des Ehe-paars Becher und seiner Schüler. Gerade die haben aber der Dokumentar-fotografie als künstlerische Sprache zum Durchbruch verholfen. Und gerade die Abzüge der Bechers liegen unter dem Format von 1m x 1m. Zu deutlich mäandern diese gebildeten Protagonisten mit ihren Theorien, um dann nur ihre „Lieblinge“ einzusammeln.



Nachgefragt


Berlin


Das Deutsche Historische Museum hatte 1992 unter dem ehemaligen Leiter des Münchener Stadtmuseums Stölzl einen furiosen Start hingelegt. Seine in München gesammelten profunden Kenntnisse über Fotografie kamen ihm dabei zugute. Mit einem Schlag wurde nicht nur intelligente Fotografie in den normalen Ausstellungen gezeigt, sondern eine eigene Galerie nur mit Foto-grafie – auch mit zeitgenössischen Fotografen – bespielt. Monika Flacke war damals dafür zuständig. Diese besondere Wertschätzung der Fotografie ist verschwunden, die Ausstellung «Von Körpern und anderen Dingen» war eine Wanderausstellung und Episode. Es wird «Das XX. Jahrhundert. Fotografien zur Deutschen Geschichte 1880-1990» aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums gespielt. Der Kurator ist Dieter Vorsteher. Da wird alles, was das Archiv an Fotografie hergibt, in einen historischen «Bilderbogen» verwurstet. Ob Kunstfotograf oder Knipser, Fundstücke oder Profis, Haupt-sache, das Motiv stimmt. Mit Recht wurde diese Ausstellung als ein Rückfall in eine Zeit attackiert, in der man der Meinung war, Fotos würden durch Maschi-nen gemacht, der Mensch drücke nur auf den Auslöser.



München


Die Siemenssammlung


Eine erstaunlich spröde Ausstellung, die nicht verleugnen kann, dass sie eins zu eins die Vorstellung über Fotografie der 80er Jahre widerspiegelt. Dieser authentische Zeitstillstand beruht auf mehreren Faktoren: Die Fotografie wird hier noch als Variante der Grafik begriffen und in der Form des «Fine Print» vorgestellt. Großbilder und Installationen sind ungelenke Fremdkörper. Dazu Lückenbüßer wie: Rineke Dijkstra mit dem Habitus des Gemäldes aus den 90er Jahren, ein schlechter Axel Hütte. Die Präsentation hat kein Konzept, das Material wird nicht einmal zum Überprüfen der aktuellen Bedeutung genutzt. Dies ist eine Sammlungsausstellung, die komplett ohne Über-arbeitung aus dem Magazin geholt wurde. Erkennbar läuft etwas mit der Siemenssammlung schief. Und nicht nur seit heute.
1993 hieß es schon bei dem Fotopublizisten Ulf Erdmann Ziegler: «In der Münchener Neuen Pinakothek, wo in den Prachträumen mit viktorianischer Kunst repräsentiert wird, war für das ehrgeizige Siemens-Projekt nur noch im Keller Platz, die großen Formate auf beigen Stofftapeten zwischen Decke und Boden geklemmt. Aber wie der Oberkonservator der modernen Abtei-lung, Ulrich Bischoff, bekannt gab, drohte jetzt Abhilfe: In separaten Ankäu-fen bei symmetrischem Einsatz von Mitteln wollen die Staatlichen Gemälde-sammlungen und Siemens bis Ende des Jahrzehnts die zeitgenössischen Tendenzen in der internationalen künstlerischen Fotografie in maßgeblichen Beispielen versammelt haben. Wenn es vorher keinen Zank gibt, werden die Sammlungen in ein paar Jahren in dem fertig gestellten Neubau zusammen-geführt.»
In: Ulf Erdmann Ziegler, «Magische Allianzen. Fotografie und Kunst», Lindinger + Schmid Verlag 1996. Der Artikel heißt «Zwischen Abscheu und Neugier: Siemens Fotoprojekt 1987-1992».
Die weiteren Ausstellungsaktivitäten bestärken den Eindruck, dass die negativste Variante der möglichen Entwicklungen eingetreten ist (siehe unten).



Nachgefragt


München


Die Pinakothek der Moderne legt nach: Vom 08. Mai 2004 bis zum 12. Sep-tember 2004 wird die Allianz Fotografiesammlung (142 Exponate) präsentiert, die als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt worden ist. Fotografiesammlung der Allianz AG für die Pinakothek der Moderne, München (www.pinakothek.de).
Damit wird endlich das Münchner Bedürfnis nach Fotografien des 90er-Jahre-Mainstreams bedient und zur Beruhigung werden auch noch die «Klassiker» aus den 20er und 50er Jahren nachgeschoben. Diese Sammlung ist eine typische Repräsentationssammlung und passt daher in die Pinakothek der Moderne, die die visuellen Möglichkeiten eines BMW-Showrooms für die Dar-stellung der modernen Kunst nutzt. Die Haltung der Allianz ist dabei sicherlich mäzenatisch. Der eigentliche Motor der Sammlungstätigkeit dürften aber PR-Gesichtspunkte und das Image des Konzerns sein. Entsprechend repräsen-tativ ist auch die Auswahl der Exponate. Die Siemenssammlung beruht dage-gen auf dem Bemühen, sich selbst als ein Teil der Gesellschaft zu betrachten und auch den Künstler/ Fotografen in diesen Prozess einzubinden.


Dieses Konzept ist heute zeitgemäßer als es bei seiner Entwicklung war und korrespondiert auch mit den wenigen anderen wegweisenden fotografischen Sammlungen, wie zum Beispiel der des Aacheners Wilhelm Schürmann. Damit wird auch klar, dass die Siemenssammlung nicht gewollt ist: Der falsche Ort, die falschen Leute, das fehlende Bewusstsein für die Besonderheit des Konzeptes. Das hatte Ulf Erdmann Ziegler ja bereits 1993 befürchtet. Die Kuratorin Ingelheim ist eine nicht die auf die Sammlung zugeschnittene Wahl: Sie ist Spezialistin für die Fotografie der 20er Jahre. Auch bei den zeitgenös-sischen Ausstellungen hat sie sich aus dem Gemischtwarenladen der etablier-ten Großbildfotografie bedient: «Selbstgespräche» und «Die Architektur der Obdachlosigkeit» waren ihre Visitenkarte. Weiterhin fällt das völlig Fehlen von Begleitveranstaltungen auf. Mittlerweile für ehrgeizige Kuratoren ein Muss. Aktuelle Beispiele: Fotomuseum Winterthur (www.fotomuseum.ch),
C/O Berlin (www.co-Berlin.com), Internationales Haus der Photographie Hamburg, (www.deichtorhallen.de).



Fazit: „Stagnation im Umbruch“ – die deutsche Misere


Schlägt man die Kunstforum-Bände 171 (Juli bis August 2002) und 172 (Sep-tember bis Oktober 2004) auf, so bekommt man diese Analyse zum eigenen Erstaunen auch drastisch belegt: Die beiden Bände sind der Neuorientierung der Fotografie gewidmet – also unserem Thema. Die Autoren und Gesprächs-partner sind: Wielfried Wiegand (FAZ), L. Fritz Gruber, Klaus Honnef, das Ehepaar Becher, Lothar Schirmer, Rober Lebeck, Manfred Heiting, Thomas Weski, Ute Eskildsen, Janos Freco, Hertha Wolf, Wilhelm Schurmann, Rudolf Kicken – das Durchschnittsalter beträgt wohl an die 60 Jahre. Alles Protagonisten der Fotografieszene seit Anfang der 80er Jahre.


Thomas Leuner


September 2004








22.03.2005


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