Im Jahre 1989 hatte der junge Fotograf Jörn Vanhöfen, damals Student der Folkwang-Schule in Essen, die kulturelle Freude, ein Interview mit André Gelpke zu führen. André Gelpke wohnte in Düsseldorf, arbeitete als Fotograf und war Lehrbeauftragter für Fotografie an der FH Dort-mund. Heute, 20 Jahre später, wohnt André Gelpke mit seiner Familie in Zürich/Schweiz und Ligurien/Italien und hat eine Professur für Foto-grafie an der Züricher Hochschule der Künste. Jörn Vanhöfen wohnt nach 20 Jahren in Berlin wieder im Ruhrgebiet und arbeitet als Fotograf.
Jörn Vanhöfen 20 Jahre sind vergangen, seit wir uns über die Situation der Fotografie in Deutschland und die Rolle des Fotografen unterhalten haben. Wir haben nun 75 Professoren an über 40 Hochschulen, an denen Fotografie gelehrt wird. Museen und Galerien zeigen und verkaufen Fotografie zu Spitzenpreisen. Der Handel mit künstlerischer Fotografie boomt. Der Fotografie scheint es so gut wie nie zuvor zu gehen. Wie ergeht es Dir mit der Fotografie?
André Gelpke Du sprichst vom Schein – das gefällt mir. In der Tat ist es auch mit der Fotografie als Kunst so, dass nur ganz wenige vom Verkauf ihrer Bilder leben können. Der große Rest wähnt sich kurz vor dem Durchbruch und betreibt weiter Kunst als kommerzielle Selbstausbeutung. Man wartet, hofft, bezahlt und betreibt ohne Zweifel manchmal ein glück-liches Arbeiten. Also, was man in den Medien so über den Fotoboom hört, ist geeignet, es weiter zu erzählen, um so die Preise von Herrn Gursky und seiner Galerie in die Höhe zu treiben. Aber Du fragst, wie es mir mit der Fotografie ergeht. Kurz, mir geht es gut mit ihr, weil sie mir immer noch Spaß in meinem Leben macht und ich durch sie ein gesichertes Einkommen als Dozent an der Züricher Hochschule der Künste habe.
Jörn Vanhöfen Mal abgesehen davon, dass es Ende der 70er und Mitte der 80er Jahre die Marktmöglichkeiten für Fotografien noch nicht so gab, wieso denkst Du, dass sich Eure Bewegung in der Fotografie nicht so durchgesetzt hat? Ihr wart doch eigentlich ein revolutionärer „Haufen“, habt doch über die Irritation der Wahrnehmung ganz neue Sehweisen provoziert. Das war doch eine gute Basis: Steinert als Lehrer, Kollegen die ähnlich dachten und foto-grafierten, Folkwang-Schule... Eigentlich eine starke Bewegung inner-halb der künstlerischen Fotografie. Wieso ist das so verpufft in den 80er Jahren?
André Gelpke Da muss man trennen – schauen wir zunächst auf Otto Steinert und die Folkwang-Schule. Er hat sich innerhalb der Lehre von der hochverdienten „Subjektiven Fotografie“ der fünfziger, Anfang sechziger Jahre in den siebziger Jahren eher wieder in Richtung Bildjournalismus hin bewegt. Also zu einer Zeit, in der dieser längst durch das Fernsehen abgelöst worden war. Ich denke, der Auslöser hierfür war bei Steinert eher seine persönliche Irritation der studentisch-politischen Aufbruchstimmung dieser Zeit gegenüber als seine wirkliche Überzeugung, dass die journa-listische Fotografie noch etwas in Richtung einer politischen oder sozialen Meinungsbildung beim Betrachter bewirken könnte. Das Ganze war, denke ich, eine Sackgasse, bestenfalls ein letztes Aufbäumen der analogen journalistischen Fotografie den digitalen Abendnachrichten im Fernsehen gegenüber. Wir waren viel zu langsam geworden und retteten uns in Nischen, eine Art illustrative Bildagenturfotografie. Dies kurz zu unserem Lehrer Otto Steinert. Nein, die Fotografie die einige von uns betrieben und die du wohl meinst, die entstand in Europa durch amerikanische Einflüsse. Es waren die Bilder eines Robert Frank, eines Lee Friedlander, einer Diane Arbus, um nur einige zu nennen. Und diese Form einer Autorenfotografie ist natürlich nicht gescheitert, sie hatte nur innerhalb des Kunstmarktes in Deutschland nicht den Erfolg, wie die dokumentarischen Arbeiten einiger der Becher-Schüler, also Abgänger der Kunstakademie Düsseldorf.
Jörn Vanhöfen Und was sind Deiner Ansicht nach die Gründe, warum die Dokumentar-fotografie schon in den achtziger Jahren im Kunstmarkt mehr Erfolg hatte als Eure damalige Autorenfotografie? Daran hat sich ja bis heute eigentlich nicht viel geändert.
André Gelpke Dieses hatte und hat verschiedene Gründe. Ich nenne einmal einen ganz ketzerischen und man mag mich dafür schlagen. Andreas Gursky und Thomas Ruff, zwei Fotografen, deren Arbeiten ich durchaus schätze, fingen einfach an, ihre Bilder groß zu machen. Von der Größe her der Malerei ebenbürtig und von der Rahmung ebenfalls. Ihre Fotografie passte plötzlich an die großen weißen Wände der überall entstehenden neuen Kunstmuseen, während unsere noch in den grafischen Kabinetten dieser Häuser herumhingen. Ich weiss, das drückt den Erfolg dieser Arbeiten nur sehr verkürzt aus, aber es ist ein wichtiger Aspekt. Dazu kommt natürlich noch Formal-Inhaltliches, also das, was auf den Bildern zu sehen war. Während wir uns ins komplizierte „Neue Sehen“ verliebt hatten, trafen die Bilder der Becher-Schüler aufs Einfache, ich möchte aber bewusst nicht Wesentliche sagen. Die Bilder machten trotzdem „Peng!“ Ein Haus, ein Kopf, ein Sternenhimmel, technisch brillant fotografiert, perfekt vom Speziallabor vergrößert, im Spezialverfahren auf Plexiglas aufgepresst und im dicken Mahagoniholzrahmen präsentiert. Das passte, man mag mir verzeihen, auch in jede Empfangshalle einer Bank. Für die achtziger, neunziger Jahre war das schon okay, wir hatten in jener Zeit auch einen kräftig gebauten Bundeskanzler, heute jedoch sind so manche Sujets der Folgeleute einfach lächerlich. Telefonhäus-chen, Kasernentore, Filzpantoffeln, gähn, schnarch, déja vu!
Jörn Vanhöfen Okay, das erlebe ich ja dauernd auf dem Kunstmarkt, wenn wieder serielle Arbeiten von fotografierten Badehäuschen oder colorierten Kinderportraits die Messen überziehen. Aber auch erlebe ich es tag-täglich in Zeitungen und Magazinen etc., dass Fotografen ihr Geld damit verdienen, gute Illustrationsfotografen im Journalismus zu sein, heisst: wie bebildere ich Armut, wie Krieg, wie das Leben an sich? Du hast in deinem Buch „Fluchtgedanken“ (1983) davon geredet, dass wir zwar täglich mit Bildern vertraut sind, welche Hunger, Krieg und Zerstörung abbilden, uns aber der Zusammenhang von „körperlich nicht Erlebtem“ und „Wahrheitsglaube an die Fotografie“ fehlt. Du hast dies durch Entzug, Verweigerung und Reduktion von Bildinhalten versucht. Glaubst Du nicht, dass die heutige Zeit, welche an den uneingeschränkten Konsum als Allheilmittel unserer Welt glaubt, genau diesen Entzug und die Verwei-gerung braucht? Warum geht diese Entwicklung seit den 80er Jahren an der Fotografie vorbei ?
André Gelpke Wenn wir die Situation international betrachten, stimmt das nicht, weder im Kunstmarkt noch innerhalb der Druckmedien. Auf die Kunst bezogen gibt es nur in Deutschland innerhalb der Fotoszene diese zwei Lager, zum einen die besagten dokumentarischen Becher-Leute mit ihren Kunstmarktstrategien, die dann auch durch die grossen Galerien ver-treten sind, und die anderen, die um die kleinen Ausstellungs- und Ankaufsetats der verschiedenen fotografischen Sammlungen in den wenigen Museen kämpfen. Die Situation bei uns in der Schweiz ist dagegen eine ganz andere, auch wenn dies vielleicht nicht für alle Länder Europas ebenfalls so sein muss. Hier ist die Fotografie mit ihrem gesamten Spektrum innerhalb der Kunst voll integriert und wird Jahr für Jahr städtisch, kantonal wie auch vom Bund großzügig mit hunderttausenden von Euro gefördert. Es gibt Geldstipendien, aber auch die Möglichkeit, für ein Jahr finanziert ins Ausland zu gehen. Und was aber vielleicht noch wichtiger ist: Diese Fotografie wird dazu noch ausgestellt in den vielen Kunstvereinen und Museen. In Deutschland hingegen gibt es in-zwischen doch eine regelrechte „lost generation“: viele hervorragende junge FotografInnen, die einfach keine Chance bekommen. Da nützt es wenig, wenn eine Ute Eskildsen vom Folkwang-Museum Essen, oder ein Ulrich Pohlmann vom Stadtmuseum München dem ganzen Elend mit all ihren beschränkten Mitteln mutig entgegenzuarbeiten versuchen. Eine Schande ist das mit der Fotografieförderung in Deutschland, einfach eine Dummheit.
Jörn Vanhöfen Leider glaubt aber jeder in diesem Markt, es doch irgendwann und irgendwie zu schaffen. Das ist alles hoch spekulatives Terrain und sehr viel Selbstausbeutung. Daher steht oftmals Form und Eindruck vor Inhalt und Ausdruck und bedingt somit ein dauerndes Schielen auf den Markt mit der Frage, was denn gerade so „läuft“. Aber sag mal, wie reagierst Du denn als Lehrender auf diese künstlichen Ansprüche und Vorstellungen junger Menschen an die Fotografie ?
André Gelpke Zunächst versuche ich einmal jegliche Ansprüche ernst zu nehmen, dafür bin ich da und verdiene mein Geld. Vorstellungen von etwas zu haben ist ja oft auch der Motor, um überhaupt etwas zu tun auf dieser Welt. Und ob etwas richtig oder falsch ist, da bin ich eher vorsichtiger geworden in der letzten Zeit. Nein, das ist es nicht – was mich aufregt, sind Studierende, die nur so tun als ob. Sie wollen Künstler sein, besuchen aber keine Ausstellungen. Sie interessieren sich nicht für die Kunst-geschichte, weil sie, wie sie sagen, Angst vor Beeinflussung haben, und von den zeitgenössischen Künstlern kennen sie die Arbeit nicht, dafür aber die Preise auf dem Kunstmarkt. Künstlerische Begabung zu haben bedeutet ja lediglich, für die Kunst die Grundvoraussetzung zu besit-zen, mehr zunächst nicht. Wer darüber hinaus noch über Intelligenz, Fleiss, Disziplin und Ehrgeiz verfügt, der kann ganz gut werden. Aber wer neben Intelligenz über keine Vorstellung und hierfür nötige Neugier verfügt, wird niemals Bedeutendes produzieren, da bin ich mir sicher. Und in diesem ganzen Geflecht von Voraussetzungen mangelt es bei vielen entweder hier oder dort. Da wird manchmal der „Paris-Hilton-Effekt“ wichtiger genommen als ein ernstes Arbeiten. Darüber hinaus gibt es aber heute auch noch in der Theoriedebatte den Hang zu der meister-haften Formulierung des Unwesentlichen, rhetorisch hervorragend, in-haltlich aber blutleer, weil nicht im Ansatz selber gelebt.
Jörn Vanhöfen Ich denke, dass die aktuelle wirtschaftliche Krise all die fortspülen wird, die glaubten, allzu leichtfertig und locker durch die Galerien und Kunstmessen tingeln zu können. Das gilt für den flotten Kunsttheoretiker sowie für die Fotografen. Viele Galerien machen nun dicht, andere ziehen sich vehement von den Messen zurück, die Umsätze fallen rapide. Was würdest Du nun einem engagierten Fotografen raten in einer solchen Zeit? Wie soll er all dies um sich herum in seine Arbeit einfließen lassen?
André Gelpke 1968 habe ich begonnen, Fotografie an der Folkwang-Schule in Essen zu studieren. So, wie man damals darum kämpfen musste, dass akzeptiert wurde, dass die Fotografie auch in der Lage war, Kunstproduktionen hervorzubringen, so muss man heute an Hochschulen immer wieder darauf hinweisen, dass Fotografie auch noch zu etwas anderem in der Lage ist, als nur Kunst zu sein. Die Fotografie ist und bleibt objektgebunden, daran hat auch die ganze Wirklichkeitsdebatte der neunziger Jahre nichts geändert. So, wie meine Studenten beweinen, dass die Ankaufetats der Banken durch „irgendeine Krise“ weggebrochen sind, beklage ich, dass sie nicht mehr hingehen, um den Bankern in irgendeiner Weise fotografisch in die Augen schauen zu wollen, die momentan damit be-schäftigt sind, diese Welt an den Rand des Abgrundes zu bringen. Dies kann die Fotografie und das hat nicht unbedingt etwas mit Bildjour-nalismus zu tun. Ich bin aber mit der Fotografie in der Lage, spontan auf den inneren wie äusseren Zeitgeist visuell zu reagieren, so wie es die Literatur mit inneren Bildern oder der Film mit Bild und Ton auch kann. Mit Skulptur oder Malerei ist das schon etwas schwieriger. Und wer die Tragödie des wegbrechenden Kunstmarktes beweint, sollte sich einmal das Drama der sterbenden Bildagenturen anschauen, oder die Sta-tistik der abstürzenden Auflagenzahlen der Druckmedien.
Jörn Vanhöfen Dies würde aber bedeuten, dass der Fotograf a) dieses kritische Be-wusstsein hat und b) in seiner Arbeit darauf Bezug nehmen will. Da bin ich sehr sehr skeptisch. Ich habe es in meiner Tätigkeit als Lehrer immer mehr erlebt, dass das Bewusstsein für ein soziales Mit-einander ab- und der Egoismus zunimmt. Die individuelle Verantwortung dieser Welt gegenüber ist in demselben Maße gesunken wie der Anreiz unserer Warenwelt mit all seinen Profitversprechen gestiegen ist. Das ist nicht unbedingt die „Schuld“ des Fotografen, sondern da haben sich viele Auftraggeber wie Zeitschriftenverlage mit ihren geringen Hono-raren über die Jahre fett gefressen und einen Berufsstand inhaltlich und existentiell kaputt gemacht. 10 Tage Arbeit im Monat für 350 Euro am Tag reichen nicht aus, um Steuer, Versicherungen, Krankenkasse, Computer zu bezahlen und eine Familie zu ernähren. Und mit 10 Tage Arbeit für Magazine bist Du in der Branche schon eine bekannte Nummer. Aber lass uns das Thema doch auf die zukünftigen Möglichkeiten richten: Ist nicht bei all dem Dilemma, das wir beschreiben, nicht „das Buch machen“ die letztlich einzige Form, autonom und frei über seine Arbeit zu bestimmen? Sollte man nicht versuchen, Mitstreiter zu finden, in Kommunikation treten mit Gleichgesinnten, um eigene Produktionswege zu finden, die Unabhängigkeit versprechen? Muss es nicht zu einer Wieder-belebung des Gedankens der Autorenfotografie kommen?
André Gelpke Ich denke, es geht zunächst weniger um ein Bewusstsein – das haben viele. Nein, es geht um eine Haltung, auch wenn das zunächst unmodern moralisch klingt. Da gibt es natürlich viele Wege. Ich habe Fotografie immer als ein begleitendes Medium begriffen, lediglich dafür da, um von A nach B zu kommen. Fotografie ist für mich Alibi. Ich fotografiere, um bei der Sache zu sein, die mir begegnet und mich interessiert. Foto-grafie als ein Beleg, auch wirklich dagewesen zu sein, nicht für an-dere, immer für mich selber. Fotografie ist für mich ein Kreis mit zwei Polen. Die eine Hälfte wird gelebt, die andere erinnert sich. So ein-fach, so kompliziert ist das mit mir und mit meiner Fotografie. Foto-grafie ist mein Sammeln von Erinnerungen, ein langsames Sattwerden, um endlich Abstand davon nehmen zu können. Fotografie ist eine Strategie gegen meine Angst vor dem Verlust. Ich benutze Fotografie immer für Dasselbe: festhalten, sichtbar machen, deutlich machen und rückholbar, im Sinne von Erin-nerung. Fotografie ist so ein wunderbares, unmittelbares Medium. Fotografie heisst Erkennen, Sichtbarmachen von Bedeutung, sie ist Alibi, ganz leise und dann wieder furchtbar laut, sensibel oder aufdringlich, ganz einfach und furchtbar schwer. Fotografie ist eine Hure, niemals wahr, immer nur behauptend. Sie ist nicht erhaben, sie steht niemals über den Dingen. Sie ist selten nur schön oder sie selber. Fotografie ist nicht frei von Zufälligkeit. Sie ist immer beides, wunderbar und erbärmlich und dieses manchmal zur gleichen Zeit. Aber ich frage mit ihr, der Fotografie. Nur diese fotografierte Welt gibt mir keine Antwort. Keine entscheidende zumindest, denn durch sie wird mir lediglich die Zeit bewusst im Sinne von Geschwindigkeit und somit auch meine Vergänglichkeit. Ich spüre durch sie, dass ich sterb-lich bin. Rainer Maria Rilke hat das wunderbar ausgedrückt: „Uns überfüllt’s / Wir ordnen’s. Es zerfällt / Wir ordnen’s wieder und zerfallen selbst/ (...) So leben wir und nehmen immer Abschied.“ Wenn dies in wenigen Sätzen meine Haltung gegenüber der Fotografie aus-drückt, dann stellt sich auf der anderen Seite die Frage, wer will das sehen und finanziell gesehen, gibt es dafür einen Markt? Schwierig, sehr schwierig und was den Markt betrifft, wohl eher nicht!? „Kunst ist Umgang mit selbst erzeugter Ungewissheit.“ (N.Luhmann) So war’s, so ist es und so wird es immer sein. Der Anspruch der Kunst von der Moderne bis heute war es, eine subjek-tive Weltsicht zu erzeugen, sie wollte herausfordern und provozieren, wollte schockieren und unsere Wahrnehmung durch Ungewohntes verändern, sie wollte den Betrachter aus seinem Trott bringen. Warum akzeptieren wir diese Krise nicht, alles wird sich verändern, auch der Kunstmarkt, Gott sei Dank! Für mich stellt sich nicht die Frage, ob das Heil eine neue Form der Autorenfotografie sein könnte, sondern ich glaube fest daran, dass diese ökonomische und ökologische Krise zwangsläufig eine andere Sicht auf unsere Welt er-zeugt und somit auch neue Kunstproduktionen hervorbringen wird. Wie hieß es noch einmal? „Kunst ist Umgang mit selbst erzeugter Ungewiss-heit“.
Jörn Vanhöfen Ich glaube jedoch, dass die Gesellschaft zur Zeit keine Empfindung für eine solche selbst erzeugte Ungewissheit haben kann. Vielleicht wird ein Prozess des Infragestellens durch die momentane Krise ausgelöst. All diese Hinweise auf Autokauf, auf Absicherung im Leben durch Geld, auf Hinweise gegen das Fettwerden etc. halten uns doch von der dring-lichsten Frage ab, was wir denn als Individuum wirklich wollen und brauchen. Mir selbst stellt sich nun mit dem Umzug zurück ins Ruhrge-biet die Frage, was nach meinem gelebten und fotografierten „Desaster“ kommt. Das ist so eine Frage und da ist die Fotografie nie weit weg vom Leben. Und das ist gut so. Zum Schluss eine allerletzte Frage bezüglich Deiner neuen Arbeiten. Ich weiß, dass Du viel und umfangreich arbei-test, deine Bilder zu Büchern bindest, ihnen Titel und eine entsprech-ende Form gibst. Was könntest Du Dir vorstellen mit all diesen umge-setzten inneren Bildern nun zu tun? Ist es eine große Ausstellung, eine Retrospektive, eine „Neupräsentation“ in Deutschland?
André Gelpke Ja, ich habe die Jahre, die ich hier in der Schweiz lebe und lehre, auch intensiv dazu genutzt, an meinen Themen fotografisch weiter-zuarbeiten. Ausgestellt habe ich eher wenig und in Deutschland gar nicht mehr. Dies hat verschiedene Gründe, einmal kann ich neben meiner Fotografie, die mir immer noch unglaublich wichtig ist, neben meiner Lehre und Familie, die mir ebenso wichtig sind, nicht noch groß im Kunstmarkt tätig sein. Ich verdiene als Dozent genug Geld, um zu leben und es ist eine Frage von Energie, die mir fehlt, um mich selber auch noch zu vermarkten.. Zum anderen hatte ich aber auch in den neunziger Jahren die Nase voll von den neurotischen Positionskämpfen, die hauptsächlich von einem Fotografen aus Berlin geführt wurden. Da wurde in Deutschland vieles zerstört, was gerade angefangen hatte zu leben. Man darf nicht vergessen, dass in den siebziger Jahren in Deutschland vielleicht zwanzig Personen ernsthaft bemüht waren, freie Fotografie bzw. Fotografie als Kunst zu betreiben. Wir waren im weitesten Sinn eine Gruppe und dieser Egowucht hatten die meisten von uns nichts ent-gegenzuhalten, konnten oder wollten nicht, denn uns ging es ja um mehr als um eine Olympiade der Fotografie. Dieses „Wer ist der Beste, na icke,icke!!“ hat mich damals einfach abgestoßen und ich habe mich dieser Szene dann radikal verweigert. Also, ich bin bescheiden gewor-den, mache meine Arbeit und irgendwann, dann gucken wir mal, wo und wie, oder ob überhaupt.
Jörn Vanhöfen Lieber André, ich bedanke mich für dieses Gespräch. Es war mir eine kulturelle Freude.
Zürich Februar 2009
Homepage Andre´Gelpke: www,andre-gelpke.zhdk.ch