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Themen: Fotomuseen im Zeitalter des Umbruchs, die Ausstellung Forschen und Erfinden, das Selbstverständnis als "Experte" und die jüngste Publikation Photo Art im 21. Jahrhundert.
Th. L. Die Fotografie wird von dem medialen Umbruch des neuen Jahrtausends besonders stark betroffen. Dieser Umbruch scheint total. Das reicht von den Fotos im Internet bei Flickr bis hin zu generierten Bildern aus dem Rechner und Digital-Kameras zum Filmen. Schwappt dieser Umbruch auch in den Bereich der Kunstfotografie?
Thomas Seelig Natürlich spüren wir in einem auf Fotografie spezialisierten Museum deutlich, dass sich die Materialität und auch die Produktionsabläufe in der Fotografie in den letzten Jahren sehr rasch verändert haben. Der Einzug des Digitalprints, das Bearbeiten am Bildschirm statt in der Dunkelkammer, generell, die Abhängigkeit von industriell unterstützten Formaten führt dazu, dass sich Werkformen neu entwickeln und andere verschwinden. Da das aus technischer Sicht immer schon passiert ist, habe ich da keine weiteren Bedenken. Ästhetisch gilt es eher, den Möglichkeiten der gereinigten Bilder zu widerstehen.
Th. L. In einem Interview mit Rineke Dijkstra im Jahre 2006 hattest Du die Frage über die Abhängigkeit der Künstler von industriell unterstützen Formaten und über die von Labors und Laboranten gestellt. War das damals ein Befund, eine Gefahr oder ist das eine generelle Beschränktheit des Mediums? Und um diese Frage noch zu erweitern: Was verstehst Du unter „gereinigten Bildern“? Wie und warum sollte dem „Reinigen“ widerstanden werden?
Thomas Seelig Das ist eher als Befund zu sehen. Er lässt Schlüsse zu, wohin sich das Medium entwickeln mag. Wenn ein Fotograf zum Beispiel Barytpapier verwenden möchte, dies aber nur noch über dunkle Kanäle aus dem Ostblock bekommen kann, wo die Umweltgesetze im Bezug zum Silberanteil im Papier nicht so streng sind, dann stirbt eben auch eine sehr charmante und erprobte Werkform. Im Einzelnen kann man feststellen, dass Fotografen sich diesen individuellen Reiz des Analogen und Händischen erhalten wollen. Es könnte beispielsweise aber sein, dass wir in Kürze vielleicht keine Filme mehr kaufen können ...? Zur Frage der gereinigten Bilder fallen mir all die digital bearbeiteten Fotografien ein, die den schmalen Grad der Indifferenz überschritten haben, und man auf Motive stößt, die eindeutig "über"arbeitet aussehen: zu aufgeräumt, zu sehr radiert, begradigt usw. In Zukunft wird es so sein, dass sich unsere Sehgewohnheiten an die heute noch "neuen" Techniken anpassen und wir Härte und Kontrast eines Inkjet-Prints nicht mehr als fremd wahrnehmen.
Th. L. Ich hatte mehr daran gedacht, dass die moderne Fotografie in einem Manufaktursystem entsteht, also der Fotograf nicht mehr selbst das Bild handwerklich herstellt. Dagegen geht es Dir um das Verschwinden erprobter fotografischer Materialien, wobei die Technikabhängigkeit ja für die Moderne generell gilt. Der Bruch in der Fotografie scheint mir daher nur ein „gefühlter“ zu sein. Es hat seit den 20er Jahren keinen wesentlichen Wechsel der fotografischen Technologie gegeben. Wenn Du das mit Film und Musik vergleichst, ist das eine unendlich lange Zeit. Die Fotografie ist ja kein medialer Monolith, Umbrüche waren daher zu erwarten. Natürlich ist das Medium Fotografie tendenziell auch eine Fluchtburg vor dem kalten Wind des Zeitgeistes. Denk nur an solch nostalgische Zeitschriften wie Leica Fotografie International oder an den fotografischen Retro-Stil der Mare-Hefte. Ich weiß also nicht, warum ich dem Barytpapier nachweinen sollte – außerdem stirbt es nicht. Da bin ich mir sicher. Und: in Deiner Ausstellung „Forschen und Erfinden“ ist ebenfalls keine Baryt- oder „fine print“-Position zu finden.
Thomas Seelig Das stimmt so nicht. Beim genauen Studium des Katalogs von Forschen und Erfinden und in der Ausstellung könntest Du die Position von Jochen Lempert entdecken. Er fixiert leicht wellige, luftgetrocknete Barytprints in Bildtableaus direkt auf die Wand, in einer Art anarchischem Aufbegehren gegen den verbreiteten Technikwahn. Wenn man von Manufaktursystem sprichst, verkennt man nämlich, dass eben mittlerweile fast alle großformatig arbeitenden Künstler beim selben Fachlabor vergrößern oder bei den gleichen Spezialisten für Digitalprints. Das bedeutet, jeder greift mehr oder weniger auf die gleichen technischen Materialien und Verarbeitungsprozesse zurück. Statt Manufaktur müsste man eher wohl von der Kleinindustrie „Kunstfotografie“ sprechen. Die Künstler, vielleicht auch ihre Galerien, suchen anscheinend diese Konstante, sonst gäbe es sicherlich ausreichende Alternativen. Ich persönlich würde als Bildautor versuchen, mich dem zu entziehen und statt dessen die Herausforderung zu suchen. In Bezug auf die vielen fotografischen Stile, die Du der Fluchtburg zuschreibst, habe ich, auch wenn es konservativ klingen mag, eigentlich gar nicht so große Probleme. Warum nicht jeder nach seiner Façon? Ob und wie jemand sein Publikum erreicht, ist dann die wohl entscheidende Frage. Und mal ehrlich, vielleicht erreicht die Leica Fotografie International viel gezielter als manch anderes Medium ein sehr gut informiertes Publikum. Interessant ist aber doch folgende Feststellung: Es gibt in der künstlerischen Fotografie ein extrem ausgeprägtes Verlangen nach Abgrenzung. Vielleicht liegt es daran, dass eben über lange Zeit keine großen Techniksprünge gemacht wurden und man sich so inhaltlich und ideologisch voneinander zu unterscheiden sucht. In Nordamerika gibt es interessanterweise einen eher lockeren Umgang mit fotografischen Vorbildern und dem Nebeneinander von ähnlichen Positionen.
Th. L. Dein erster Befund ist die „Kleinindustrie Kunstfotografie" und die Frage, ob man sich dieser Konstanten als Künstler entziehen kann. Das ist wohl als Kritik von Dir am derzeitigen „mainstream“ gemeint. Sind nicht die Froschstudien von Sanna Kannisto aus der Helsinki School in Forschen und Erfinden ein Beispiel für diese Anpassung? Ebenfalls in eine kritische Richtung zielt Deine Anmerkung zu den „gereinigten Bildern“. Hier benutzt Du den Begriff „über-arbeitet“, wobei dieser Begriff auch aus der Malerei stammen könnte. Es bezeichnet dort ein Bild, das „über-malt“ wurde, also durch zu langes Weitermalen verschlechtert und im Ergebnis als “vermaltes“ Bild gescheitert ist. Der neuen Technik des Inkjet-Prints sprichst Du eine andere Ästhetik zu: Härte und hohe Kontraste. Die interessante Frage ist dann, ob diese neue Ästhetik auch mit neuen Inhalten gefüllt wird. Von einer ganz anderen Richtung her argumentierst Du, wenn Du der künstlerischen Fotografie ein extrem ausgeprägtes Verlangen nach Abgrenzung attestiert. Damit sind wohl von Dir die Abgrenzungs-bedürfnisse der Künstler untereinander gemeint. Man hat einen Stil, eine „Handschrift“ und jeder andere, der diese benutzt, macht nur noch Plagiate. Hier bietet Deiner Meinung nach die fotografische Technik zu wenig Spielraum. Bedeutsam scheint mir noch das Thema "Barytpapier", da hinter diesem technischen Begriff eine foto-grafische Kultur steht, die Tradition des "fine prints". Ob dahin die Schwärme von Jochen Lempert in korschen und Erfinden gehören, erscheint mir fraglich. Die von ihm gemachten Abzüge sind Arbeiten auf Dokumentenpapier, also mit einer Anmutung eines Fotos auf Schreibmaschinenpapier. Natürlich gibt es auch für dieses Genre eine längere Tradition. „Eine Art anarchisches Aufbegehren“ kann man wohl nicht mehr darin finden. Unabhängig von diesen interessanten Einzelfragen, denen ich hier nicht weiter nachgehen möchte, erstaunt doch Deine kritische Haltung gegenüber der zeitgenössischen Fotografie. Bisher bin ich gewohnt, dass die Generation der altgedienten Fotokuratoren eine Diskussion über die Qualität der zeitgenössischen Fotografie vermeidet. Was treibt Dich da als Kurator an?
Thomas Seelig Ich möchte zuerst auf Deine Anmerkungen in Bezug zur Ausstellung Forschen und Erfinden eingehen. Es führt in die falsche Richtung, die Positionen in der Ausstellung von der technischen Seite zu argumentieren. Alle beteiligten Künstler und Fotografen arbeiten explizit im Medium Fotografie und loten in Ihrem Schaffen die Fähigkeiten und Möglichkeiten der heutigen Fotografie aus. Ich sehe da eine grosse Lust und gleichzeitig ein hohes Maß an Reflexion, sich mit den wechselnden Bedingungen und den sich daraus ergebenden Codes auseinander zu setzen. Dies führt zu unterschiedlichen Werkformen, sicherlich immer in Bezug zur aktuellen fotografischen Produktion von anderen Fotografen und Künstlern. Diese kritische Haltung von Seiten der Künstler berührt aber den zweiten Teil Deiner Frage, nämlich was mich als Kurator in dieser Sache antreibt. Sicher arbeite ich aus der gleichen Skepsis und Neugier heraus, wohin sich die Fotografie entwickeln wird. Es ist äusserst spannend, die kleinen und grossen Verschiebungen zu beobachten, wie und mit welchen Mitteln etwas Neues in der Fotografie geschaffen und erprobt wird. Einiges setzt sich durch, anderes bleibt vielleicht nur eine kleine Fußnote in der Fotogeschichtsschreibung. Dabei interessiert mich beides, content und image, Aufzeichnung oder Fiktion, Vergangenheit und Zukunft. Mein Blick auf die Fotografie wird also durch den kontinuierlichen Perspektivwechsel bestimmt, hoffentlich ohne dass dadurch eine kritische Haltung gegenüber dem Medium verloren geht.
Th. L. Bleiben wir bei Forschen und Erfinden. Was Du lediglich als „Technik“ oder „Werkform“ bezeichnest, sind für mich Genres. Die von Dir zitierte Klammer „Medium Fotografie“ hat sich mittlerweile ins Undefinierbare aufgelöst. In Forschen und Erfinden zeigst Du einen Parcour durch die aktuellen Möglichkeiten, mit Fotografie künstlerisch zu arbeiten. Aber tatsächlich ist die Fotografie in der gesamten zeitgenössischen Kunst „irgendwie“ vorhanden. Du könntest also auch gegenständliche Malerei mit einbeziehen unter dem Titel: „Fotografie in der Werkform der Malerei“. Bei Forschen und Erfinden geht es zum Beispiel von den Atlas-Sammlungen Costa Veces – Gerhard Richter und Aby Warburg lassen schön grüßen –, über Ana Torfs inszeniertes Filmzitat von Carl Theodore Dreyers „Jeanne d'Arc“ bis hin zu Illustrations-Dokus für eine literarische Recherche von Joachim Koester. Ich sehe da keinen zwingenden Zusammenhalt. Auch das Thema Forschen und Erfinden ist vage, denn „Forschen und Erfinden“ sind die Grundlagen jeglicher künstlerischen Tätigkeit, auch für Fotografen. Allan Porter, der frühere Redaktor der Zeitschrift camera aus Luzern, hat das schon in seinen Texten in den 60er Jahren beschrieben: „Es gibt zwei Typen von Fotografen, die Entdecker und die Erfinder“.
Thomas Seelig Da habt Ihr, Allan Porter und Du, sicherlich recht, zwischen diesen beiden Polen finden sich eine Vielzahl künstlerischer Ansätze in der Fotografie wieder. Um ehrlich zu sein, verstehe ich Deine Kritik nicht recht. korschen und Erfinden stellt Genres vor, allerdings nicht auf Technik und Werkform reduziert. Bei der Auswahl spielten hinein, welche Motive des Erzählens oder des Sammelns eine Rolle spielen, wie und ob Form und Inhalt methodisch oder chaotisch gefunden werden. Ob ein fotografisches Bild für sich alleine stehen kann oder es zwingend einen Text, eine Anordnung oder ein Raster benötigt, um verstanden oder kommuniziert zu werden. Diese Haltungen, die Du Genres nennst, sind bewusst sehr weit auseinander platziert. Vom Selbstverständnis der eingeladenen Künstler, die mit diesem Medium teils ausschließlich, teils nur am Rande arbeiten, ist diese Autonomie sicherlich verträglich, vielleicht sogar Pflicht. Es gibt sicherlich andere Formen von Ausstellungen mit historischen oder thematischen Zusammenstellungen, in denen dem auratischen Platzanspruch eines Werks und der Einbindung in eine Argumentation ein engerer Rahmen gegeben wird. Ich finde aber interessant, dass Dich diese These zu einer derartig eindeutigen Ablehnung treibt. Eine lose Zusammenstellung der Positionen provoziert vielleicht ein Hinterfragen der fotografischen Wahrnehmung und erfordert vom Betrachter, eine Haltung zur fotografischen Bildproduktion einzunehmen. Das kann auch im Dissens zur Ausstellung geschehen.
Th. L. Du bist Kurator an einem Fotomuseum, also an einem Kunstgewerbemuseum mit der Spezialisierung Fotografie. Eine Ausstellung mit Künstlern von so unterschiedlichen Haltungen in einem Fotomuseum zu zeigen ist sicherlich ambitioniert, aber in diesem Kontext doch eher ungewöhnlich. Ob diese Ambitionen in korschen und Erfinden auch nachvollziehbar sind, scheint mir nicht zwingend. Deutlich zeigt sich das bei den Arbeiten von Walid Raad/The Atlas Group, die den schönen Titel „ehrlich gesagt, das Wetter hat geholfen“ trägt; eine Idee über Erinnerungen eines Jungen aus der Kriegszeit, der Einschüsse und Splitter sammelte und die Fundstellen farbig auf dokumentarischen Ansichten Beiruts markierte, dies auch noch nach waffentechnischen Gesichtspunkten geordnet. Was Dir für die Ausstellung zur Verfügung stand, waren 17 Prints im Format 46x72cm, die im Rahmen wie fragile technische Zeichnungen wirken. Prinzip der Atlas Group sind Arbeiten mit einer großen Fülle dokumentarischen Materials. Aus dem Wissen um die Fülle und dem archivarischen Impuls ergeben sich für den Betrachter die künstlerischen Zusammenhänge. Wenn man Arbeiten der Atlas Group kennt, sind die Exponate lesbar und können ihre Wirkung entfalten. Ohne diesen Wissenskontext sind diese 17 Exponate aber nur eine Idee, ein Konzept, die Wirkung muss man imaginieren. Wobei ich natürlich auch gesehen habe, dass die von Dir ausgestellten Bilder so auf dem Kunstmarkt angeboten werden.
Thomas Seelig Ich muss etwas ausholen. Die Rolle des Fotomuseum Winterthur als Kunstgewerbemuseum mit soziologischem Interesse ist eine mögliche, ich denke da an Ausstellungen wie TRADE – Waren, Wege und Werte im Welthandel heute (2001) oder Im Rausch der Dinge (2004). Es gibt aber noch ganz andere Facetten, die Du nicht genannt hast, beispielsweise historische Ausstellungen mit Karl Blossfeldt, Bill Brandt oder Dorothea Lange oder monografische und thematische Präsentationen in der zeitgenössischen Kunst. Das Fotomuseum Winterthur zeigt aber auch Roni Horn, Boris Mikhailov oder Zoe Leonard. Das von Urs Stahel (Direktor Fotomuseum Winterthur) seit 1993 vertretene Programm definiert sich aus der Spannung verschiedener fotografischer Welten, da kann es eine wunderbare Zusammenkunft geben wie die von John Waters mit Arnold Odermatt. Eine Gruppenausstellung wie korschen und Erfinden hat aus dieser Geschichte heraus natürlich einen Kontext im Programm. Zu Walid Raads The Atlas Group. Du beschreibst seine Arbeit nur unzureichend, denn die 17 Prints werden von einem Text an der Wand oder in der Publikation begleitet, der integraler Teil des Werkes ist. Darin scheint keine rein dokumentarische Haltung auf, sondern dass unser westlich geprägter Begriff von Wahrheit auch „fantastische“ Elementen enthalten kann. Es gibt bei Raad im eigentlichen Sinne keine Originale, sondern nur Dateien, die sich in Ausstellung und Publikationen materialisieren. Das angesprochene Album ist diesem Sinne eine intelligente Fiktion, die die Glaubwürdigkeit von Fotografie in Frage stellt. Eine These der Ausstellung ist, dass die Pole von Objektivität und Subjektivität in der Fotografie zunehmend unschärfer werden und sich Künstler frei bedienen. Das berührt Jochen Lemperts biologisch motivierte Forschungsreihen genauso wie Kristleifur Björnssons Aneignungen von Massenbildern aus dem Internet. „Copy/Paste“ ist eine heute gültige Gebrauchsweise, die uns allen nicht fremd ist, Originalität in der Autorenschaft kann sich folglich auch in Positionen festmachen, die mit dem Zitat oder dem Verweis operieren.
Th. L. Was ist mit Subjektivität/Objektivität gemeint? Ob ich vorgefundenes Material – Copy/Paste – verwende oder selbst Bilder „anfertige“, macht doch wenig Unterschied. Zumindest ist das in der zeitgenössischen Kunstpraxis unumstritten.
Thomas Seelig Richtig, neu ist der hybride Umgang mit beidem. Die Grammatik der künstlerischen Fotografie wird dadurch etwas komplexer. Die Positionen der Künstler verwischen aber interessanterweise nicht, sie werden vielmehr auf den Punkt gebracht.
Th. L. Matthias Harder, der Kurator der Helmt Newton Stiftung, hat jüngst seinen Eintritt in die Welt des Kuratierens so beschrieben: Man habe in den Sammlungsräumen der Berlinischen Galerie – Fotografische Sammlung - gesessen und mit dem Leiter der Sammlung, Janos Frecot, Ausstellungen fantasiert – sozusagen das Kuratieren als meditativ schöpferischer Prozess?
Thomas Seelig Es kann doch ein legitimer Weg sein, sich vom eigenen Sammlungsbestand an eine Ausstellungsidee heranzutasten, ich stelle mir das überhaupt nicht esoterisch vor. Vielmehr schält man bei einem solchen Vorgehen aus einem persönlichen Wissenskern unterschiedliche Fragestellungen heraus, mit denen dann eine Konzeption formuliert wird. Eine Ausstellungsidee ist in meinem Verständnis allererst immer eine Fantasie. Man fühlt sich durch etwas herausgefordert, entwickelt eine Neugier und beginnt erst später, Fragen der Kommunizierbarkeit mitzudenken. Das alles ist anfangs recht ungreifbar und wird erst später konkret. Genauso gibt es aber auch gesellschaftliche Themen, die in der Luft liegen, und die in einer Ausstellung verhandelt werden könnten. Bei TRADE(2001) beispielsweise gab es als Ausgangspunkt eine von Urs Stahel formulierte These, dann eine äusserst breite Bild- und Textrecherche und später eine Diskussion über Form und Erscheinung der Präsentation. Monografische Ausstell-ungen folgen anderen Denkweisen, wenn aus der Biografie eines Künstlers ein Konzept entwickelt wird, das auf den Ausstellungs-kontext hin verdichtet wird.
Th. L. Wie sah dieser erste kreative Prozess bei korschen und Erfinden aus?
Thomas Seelig In den letzten Jahren konnte vermehrt beobachtet werden, dass sich eine neue Dialektik in der Fotografie entwickelt hat. Das Medium wird von Fotografen und Künstlern aus unterschiedlichen Perspektiven auf seine Tauglichkeit überprüft. Im Essay des Katalogs hat Ulrich Lehmann dieses Vorgehen sehr passend beschrieben. Entweder wird die Idee eines bestehenden Systems um einen kleinen Baustein weiter entwickelt oder es kommt zu einer radikalen Infragestellung des Systems, was zu ganz neuen Formen führt. Beide Wege setzen die Kenntnis der Materie voraus. Übertragen auf die Fotografie gibt es ein Referenzsystem von bestehenden Thesen und Positionen, an denen man sich „reiben“ kann. Die Aufgabe lag nun darin, einen spezifischen Sound für die Ausstellung zu finden, der einheitlich und gleichzeitig variantenreich klingt. Viele der Künstler habe ich über Jahre hinweg beobachtet und deren Entwicklung verfolgt, in Ausstellungen und Publikationen, durch Dossiers oder im Internet, auf andere stößt man eher bei der Recherche zum Projekt.
Th. L. Wahrscheinlich hat jeder Kurator seine eigene persönliche Art des Vorgehens. Wenn ich Dich richtig verstehe, sind bei Dir Ausgangspunkt Arbeiten von Künstlern und Fotografen, deren Arbeiten Du länger kennst und verfolgst. Dann entwickelst Du ein Rohkonzept und suchst weitere Künstlerarbeiten aus und verfeinerst das Konzept. Wie war das bei korschen und Erfinden? Welche Arbeiten waren der Ausgangspunkt? Wie und wo hast Du dann weitere Arbeiten gefunden?
Thomas Seelig Seit geraumer Zeit habe ich Sanna Kannisto und Jochen Lempert verfolgt, teils in Ausstellungen, teils in Publikationen. Joachim Koester interessierte mich schon lange von seiner Herangehensweise, bei ähnlichen Themen jeweils zu anderen Ausformungen zu kommen. Während der Vorbereitung lernte ich Walid Raads Positionen schätzen, je länger je mehr. Beim konkreten Platzieren kam mir dann die Idee, Costa Vece und Ana Torf jeweils einen eigenen Raum zu geben, von Kristleifur Björnssons riesigen Collagen nur wenige, diese aber pointiert zu zeigen und Pierre Bismuths auratische Werke wie gedankliche Satzzeichen (Punkt, Ruf- oder Fragezeichen) einzusetzen. Ana Torfs Dia-Installation hatte ich vor Jahren in einer Veröffentlichung in einem belgischen Kunstmagazin gesehen. Nachdem ich ihre Adresse herausbekommen hatte, nahm ich Kontakt mit ihr auf. Das Dossier lag dann einige Monate auf meinem Schreibtisch. Es gibt aber auch andere Wege. Urs Stahel hat mich im Hinblick auf die Ausstellung auf Costa Vece aufmerksam gemacht. Seine Werkgruppe „Dark Days“ hatte ich im Vorfeld nicht im Original gesehen, sondern immer nur in Abbildungen. Für Costa war es aber auch eine Ausstellungs-premiere, da die gesamte Arbeit bis dahin nur in einer Publikation veröffentlicht wurde.
Th. L. Das klingt sehr intuitiv und zufällig. Gibt es für das Fotomuseum Winterthur ein Konzept für eine systematische Recherche und Information über die aktuelle Fotografie- und Kunstszene?
Thomas Seelig Das kann ich nur generell beantworten, da ich die verworfenen und nicht berücksichtigten Positionen nicht aufführen möchte. Grundsätzlich gehe ich jeder Arbeit nach, soweit sie mir interessant erscheint. Angeregt durch Ausstellungsbesuche, Publikationen, Einladungskarten, Homepages oder Newsletter verdichtet sich mit der Zeit „das“ oder „mein“ Bild zur Fotografie- und Kunstszene. Für andere Ausstellungen wie zum Beispiel Reale Fantasien, ein Überblick aktueller Tendenzen in der Schweizer Fotografie, haben Urs Stahel und ich den Rat von anderen Kuratoren, Fotografen, Hochschul-lehrern und Redakteuren in der Schweiz gesucht. Es wäre doch vermessen zu behaupten, man kenne alles. Im gleichen Kontext kann man auch unsere jährlich stattfindenden Plat(torm-Präsentationen sehen, die jeweils am letzten Januarwochenende stattfinden. Wir schauen bei dieser Veranstaltung sehr früh auf internationale Talente und verfolgen deren künstlerischen Weg über Jahre hinweg.
Th. L. Mich hat häufig die Frage beschäftigt, wie organisiert man Kunst und Kultur in der Öffentlichkeit. Die Glaubwürdigkeit und Fairness der institutionellen Arbeit muß ja für die Öffentlichkeit und für die Künstler erkennbar sein und kommuniziert werden. Gibt es da für Dich eine besondere Strategie? Und wie gehst du als Sammlungskurator mit dem Spannungsverhältnis Künstler, Institution und Experte um? Du hattest ja bereits bei der kuratorischen Arbeit zu Forschen und Erfinden angedeutet, dass der Kurator auch mit nicht berücksichtigten Künstlern und Arbeiten umzugehen hat.
Thomas Seelig Anders als bei einem Juryentscheid bewegt man sich bei der Tätigkeit in einem Museum eigentlich immer im „öffentlichen“ Bereich. Bei den Ausstellungen, an den Themen und Gästen eines Symposiums, bei Künstlergesprächen oder bei den Plattform-Wochenenden kann das Programm doch jederzeit abgefragt und bewertet werden. Selbst die Sammlung ist durch den Internetauftritt des Fotomuseum Winterthur in großen Teilen zugänglich. Das Profil des Museums bildet sich folglich aus der Kommunikation all dieser Komponenten und ist aus meiner Sicht sehr klar. Diese Transparenz ist aber auch für Fotografen sehr hilfreich. Letztlich kann ein Künstler im Vorfeld wissen oder zumindest erahnen, ob seine Arbeit in den spezifischen Kontext eines Museums passt.
Th. L. Als Beispiel für Künstlerförderung hast du auf die Plat(torm-Präsentationen Nr.2 im Januar 2008 verwiesen. www.fotomuseum.ch/index.php?id=7.Zu dieser Präsentation wurden vom Museum ausgewählte Fotografen und Fotokünstler eingeladen, die schon auf dem Sonar der professionell „Nominierenden“ erschienen sind, um ihre Arbeiten der Öffentlichkeit und einem Team von Experten vorzustellen. Das Konzept der Plat(torm unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den epidemisch angewachsenen Portfolio Sichtungen der einschlägigen Fotofestivals. Das Fach- und interessierte Laienpublikum ist bei den Sichtungen integriert, die Experten stellen sich vor und agieren unter öffentlicher „Aufsicht“. Es entsteht – zumindest vom Konzept her – ein Raum für öffentliche Diskussion und Information. Hat das bei den ersten beiden Plat(torm-Präsentationen funktioniert?
Thomas Seelig Wichtig bei dieser Art von Veranstaltung erschien uns, dass es in erster Linie um den Austausch von Informationen geht und nicht um einen Wettbewerb des besten Portfolios. Wir, das heisst das Publikum, die anderen Kuratoren, Galeristen, Art-Direktoren, Urs Stahel und ich vom Fotomuseum, lernen auf diese Weise jedes Jahr über vierzig junge Talente an einem frühen, spannenden Punkt ihrer Karriere kennen, bauen eine erste Brücke. Spannend fand ich aber auch, wie sich die teilnehmenden Fotografen untereinander vernetzt haben, da gab es regen Austausch und Diskussionen. Ich bin mir sicher, es wurde die ein oder andere Projektidee geboren ...
Th. L. Ist dieses Konzept wegweisend für die Weiterentwicklung eines Fotomuseums zu einem Zentrum für Fotografie? In welche Richtung wird da gedacht?
Thomas Seelig Der Begriff Zentrum für Fotografie in Winterthur ist ja bereits durch unsere Partnerschaft mit der Fotostiftung Schweiz, die auf dem gleichen Areal eigene Ausstellungsräume und Archive betreibt, vergeben. Wir nutzen eine gemeinsame Infrastruktur wie die Farb- und S/W-Depots, das Café oder die Bibliothek, sind aber zwei selbstständige Institutionen. Von Zeit zu Zeit arbeiten wir an gemeinsamen Ausstellungen oder organisieren Symposien. Diese Synergien wirken also schon. Die Plat(form -Veranstaltung ist für das Fotomuseum Winterthur in der Tat ein wichtiges Instrument, um auch der jungen, ambitionierten nationalen und internationalen Fotografie einen Rahmen zu schaffen.
Th. L. Noch einmal zurück zur Recherche. Die Plat(form-Präsentation #2 stellt auf die klassische Fotografie und Fotokunst ab. Besonders wird dies durch die Wahl von Valérie Fougeirol, der Direktorin von ParisPhoto, als Jurymitglied deutlich. In Forschen und Erfinden war Dir die Einbeziehung von Künstlern wichtig, die nicht aus der Fotoszene kamen, sondern mehr der bildenden Kunst zuzuordnen sind. Der Zugang zu diesen Personen und deren Arbeiten dürfte aber auf der Ebene der Foto-Institutionen und Experten nur eingeschränkt möglich sein. Traditionell besteht zwischen diesen beiden Segmenten wenig Austausch.
Thomas Seelig Das siehst Du falsch. Unsere Experten und auch die Nominierenden haben aus verschiedensten Perspektiven professionelle Berührung mit Fotografie. Wir hatten in diesem Jahr als Experten einen Fotografie-Dozenten aus London, eine Herausgeberin eines internationalen Fotokunst-Magazins aus Spanien, einen belgischen Sammler zeit-genössischer Kunst und Fotografie, sowie mit Valérie Fougeirol die Vertreterin einer der renommiertesten Fotomessen, die sowohl klassisch wie zeitgenössisch ausgerichtet ist, eingeladen. Urs Stahel und ich waren die Experten Nummer 5 und 6. Zusammen genommen ergab sich für die Fotografen und Künstler damit ein breites Spektrum an professioneller Reaktionen auf ihre Arbeit. Jeder, der die Plat(f) form besucht hat, konnte spüren, dass die Grenzen in der Produktion heute fließend sind und dementsprechend auch wahrgenommen werden.
Th. L. Die klassischen Recherche-Instrumente des Kurators sind die Künstlergespräche, die Atelierbesuche und das „open house“, wenn Künstler vorbeischauen. Haben diese Instrumente dank Internet und Experten-Netzwerk ihre Bedeutung verloren oder hat das mehr mit dem erhöhten Event-Druck auf die Museen zu tun?
Thomas Seelig Eigentlich sehe ich keinen Event-Druck. Die Instrumente und die Form von Kommunikation und Information haben sich sicherlich geändert. Es gibt kaum mehr Fotografen, die nicht im Internet in irgendeiner Form präsent sind. Wir alle sind in die Lage, beispielsweise das Programm von Institutionen in Asien oder Südamerika zu verfolgen. Einiges kann man nur durch diese neu geschaffenen Möglichkeiten kennenlernen. Es werden jährlich aber auch immer mehr Publikationen produziert, die ja auch einen Adressaten haben sollten! Besuche bei Künstlern kamen früher wie heute sicherlich nicht ohne Empfehlung zustande, da verklärst Du möglicherweise die „alten“ Zeiten.
Th. L. Noch abschließend eine Frage zu deiner konkreten Arbeit als Sammlungskurator. Die gesamte fotografische Sammlung des Fotomuseums Winterthur ist ins Netz gestellt worden. Dürfte das in Zukunft ein neuer Standard werden?
Thomas Seelig Das ist schwer zu sagen, es gibt ja bereits Kunst- und Fotografie-Institutionen, die ihre Sammlung online schon lange verfügbar gemacht haben. Mir gefällt dabei der Gedanke, Werke über ihr Eigenleben hinaus, in den Archivschachteln, im Kältedepot, in Sammlungs-ausstellungen oder bei externen Leihanfragen in einem weiteren musealen Kontext erscheinen zu lassen, nämlich dem der Online-Sammlung. Der Zugang ist immer und ohne räumliche Begrenzung möglich. Das Fotomuseum Winterthur erreicht damit weltweit Studenten, Kuratoren und Fotografen, kurz gesagt, eine neue Öffentlichkeit, die es vielleicht noch nie nach Winterthur geschafft haben. Diese virtuelle Präsenz schützt aber auch die eigentlichen Arbeiten, die wir haptisch weniger in Anspruch nehmen müssen.
Th. L. Ute Eskildsen (Museum Folkwang Essen), die dienstälteste Fotokuratorin im deutschsprachigen Raum, hat einmal mit Bedauern festgestellt, dass der Nachwuchs an Fotokuratoren seit den 90er Jahren aus der Kunstwissenschaft kommt. Das Modell des Fotokurators mit eigener fotografischer Ausbildung habe sich nicht durchgesetzt. Du selbst hast Visuelle Kommunikation/Fotografie an der Fachhoch-schule Bielefeld studiert und gelangtest durch ein Aufbaustudium an der Jan van Eyck Acadamie in Maastricht in den Vermittlungsbereich. Geht das ohne kunstwissenschaftlichen Hintergrund? Hat das einen anderen Zugriff auf die Fotografie zur Folge? Ist vielleicht der Kunstwissenschaftler ohne mediale Zusatzqualifikation mit der Kunstfotografie überfordert?
Thomas Seelig Sicherlich ist mein Zugang durch eine Fotografieausbildung ein anderer als der eines Kunstwissenschaftlers. Ich sehe meine Stärke darin, in der künstlerischen Fotografie recht gut prozesshafte Entscheidungen für bestimmte Werkformen nachvollziehen zu können. Interessanter ist aber doch, dass Ute Eskildsen, Thomas Weski und auch Maik Schlüter vom Museum für Photographie in Braunschweig aus der Praxis kommen. Es lag letztendlich jeweils an konkreten Möglichkeiten, kuratorische Projekte zu realisieren. Meiner Ansicht nach wird es Quereinsteiger immer wieder geben, auch wenn durch das Kuratorenstipendien der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in Essen, München und Dresden oder die universitären Ausbildungen in Europa und den USA im Moment vielleicht eher die Kunstwissenschaftler profitieren.
Th. L. Die Gründergeneration wie Thomas Weski (vormals Sprengel Museum Hannover) oder Janos Frecot (Berlinische Galerie) waren Querein-steiger mangels existierender Ausbildungsmöglichkeiten. Sie sind sozusagen kuratorische Autodidakten. Dagegen werden die großen Häuser heute von „Experten“ betreut: Pinakothek der Moderne München – Dr. Inka Graeve-Ingelmann, Museum für Fotografie in Berlin – Dr. Ludger Derenthal, Helmut Newton Stiftung – Dr. Matthias Harder, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Autodidakt mit Fotopraxis hat meiner Meinung nach heute keine Chancen. Dein Weg über eine kuratorische Zusatzausbildung – das wäre wohl jetzt ein Master-Studienabschluss – ist sicherlich ein zweiter Weg, um „Experte“ zu werden, aus der Sicht der Künstler/ Fotografen sicherlich eine sympathische Variante. In diesem Zusammenhang stolpere ich immer wieder über den Begriff „Experte“, der auch von Dir gerne benutzt wird. Ist das jetzt die „Generation Experte“? Was sind das für Wirkungsfelder, die angeboten werden? Pinakothek der Moderne bedeutet die Sammlung des Siemens Arts Programms, die Helmut Newton Stiftung der Nachlass Helmut Newtons, Museum für Fotografie die Verwaltung der Fotografien der anderen Museumsdirektoren der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ingo Taubhorn im Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg die Sammlung F. C. Gundlach. Insgesamt sind das doch eng umgrenzte Arbeitsgebiete.
Thomas Seelig Es ist ja nicht so, dass man aus dem Nichts als Kurator geboren wird. In beiden Modellen spielt doch überwiegend Wissen, Methodik und Erfahrung mit, wie eigentlich hinter jeder Ausbildung. Beide Wege sind legitim. Wenn man einige Jahre dabei ist, stellt man fest, dass es ein breites, internationales Netzwerk unter den Institutionen und den Beteiligten gibt, das man von Zeit zu Zeit in Anspruch nimmt. Der „Experte“ ist ein internationaler „Netzwerker“ und repräsentiert damit eine eigentlich recht zeitgemäße Vorstellung von Austausch und Zusammenarbeit, wie ich finde. Zu Deiner Spitze zu den Institutionen kann ich nur sagen, dass es im letzten Jahrzehnt im deutschsprachigen Raum doch einen enormen Zuwachs an Sammlungen und Institutionen gegeben hat. Einige sind aus privater Sammlerleidenschaft abgeleitet, andere gehen aus Corporate Collections hervor. Historisch gesehen war das in der Fotografie sehr häufig der Fall: es existiert ein Grundstock und daraus erwächst meist ein erweitertes Sammlungs-konzept, das jedes dieser Häuser einzigartig macht. Ich würde vorschlagen, den Neugründungen einfach mal ein paar Jahre oder ein paar Jahrzehnte Zeit zu geben, ihr Profil programmatisch sichtbar zu machen. Für meine Begriffe kann man da auch zu ungeduldig und pauschalisierend herangehen!
Th. L. Anfang dieses Jahres ist Photo Art. Fotografie im 21. Jahrhundert im Dumont Verlag erschienen. Du zeichnest zusammen mit Uta Grosenick, der leitenden Redakteurin der Kunstbuchreihe bei Dumont, als Herausgeber verantwortlich. Brigitte Werneburg schrieb dazu in der Tageszeitung: „Uta Grosenick und Thomas Seelig haben mit Photo Art. Fotografie im 21. Jahrhundert ein hilfreiches Nachschlagewerk zur gegenwärtigen Foto- und Kunstszene vorgelegt. Von A bis Z werden die Protagonisten mit drei Bildseiten und einem kurzen Kuratorentext kompetent vorgestellt. Ein umfangreiches Glossar zu Begriffen der zeitgenössischen Fotografie schließt den knapp 520 Seiten starken Band ab, an dem wenig auszusetzen ist.“ Gratuliere! Aber warum jetzt ein Nachschlagwerk im Coffee-Table-Look über die Fotografie im 21. Jahrhundert?
Thomas Seelig Coffee-Table? Na ja, wenn Du meinst ... !?! Nein, bei unseren Überlegungen und Diskussionen zu diesem Buch stand im Vordergrund, dass wir den neuen, vielleicht noch unbekannteren Positionen einen expliziten Raum geben wollten. In unzähligen Anthologien der letzten Jahre sind die „usual suspects“ immer wieder gezeigt worden. Während der Arbeit am Buch sind dann mehr dieser bekannten Namen heraus gefallen und durch aktuellere ersetzt worden. Die steile These im Untertitel verweist natürlich auf ein Versprechen in die Zukunft der künstlerischen Fotografie, das durch das thematische Glossar und durch weiterführende Links zu den Künstlern eingefasst wird. Das Buch funktioniert sinnbildlich also wie eine Homepage, man findet kleinere Bildsequenzen, begleitende Texte, ... und wer mehr haben möchte, kann dies sehr leicht bekommen. Als auflagenstarkes, international vertriebenes Nachschlagewerk erfüllt die Publikation aus meiner Sicht eine wichtige Funktion. Es ordnet die wichtigsten fotografischen Begriffe und stellt in seiner Gesamtkonzeption eher Positionen dar, als dass es Bilder zeigt.
Th. L. Das redaktionelle Konzept ist in den Besprechungen über Photo Art unterschiedlich bewertet worden. Die kritischen Einwände fordern ein „Mehr“ an redaktioneller Bearbeitung. Die „wichtigen fotografischen Begriffe“ am Ende des Bandes wären zu wenig mit den vorgestellten künstlerischen Positionen verklammert, die Fotografen nur alphabetisch aufgelistet und die Glossare die üblichen in Künstlerkatalogen zu findenden Texte. Offensichtlich besteht in der Öffentlichkeit ein großes Bedürfnis nach Orientierung über die zeitgenössische Fotografie. Vielleicht habt ihr das unterschätzt oder das Konzept der Art-Reihe des Dumont Verlages lässt nichts anderes zu.
Thomas Seelig Die Form wurde von Uta Grosenick und mir gemeinsam entschieden, zu der wir natürlich auch heute noch stehen. Wir haben bewusst keine Wertung vorgenommen haben und die Bildautoren alphabetisch angeordnet. Das Glossar hat natürlich einen Zusammenhang zu den Positionen der Fotografen und Künstler, wenn die Begriffe in den Künstlertexten auftauchen, die im übrigen keine Gefälligkeits-besprechungen und Lobhudeleien sind. Bei zwei Doppelseiten pro Künstler ist man allerdings daran gebunden, eine reduzierte und präzise Bildauswahl zu treffen. Das ist mehr als in einem Magazinartikel und notgedrungen weniger als in einer Monografie. Das positive Feedback der meisten Künstler lässt aber vermuten, dass sie sich mit ihren Seiten auch im Gesamtkontext des Buches gut aufgehoben fühlen.
Th. L. Zum Abschluss noch eine Frage zu Photo Art. Erstaunlich fand ich den Verriss in der Weltwoche von Daniele Muscionico (Ausgabe 03/08) unter dem Titel „Leichenbeschauerin des Zeitgeists“, in der sie die Substanz der von Euch vorgestellten Fotografie verneint. Ausschnitt „Wiederkäuer und Technofreaks. Warum nur erscheint eine Vielzahl der Künstlerinnen und Künstler so unoriginell? Wenn Michael Janiszewski (*1957 in Berlin) düstere Provokatiönlein inszeniert, tut er das amateurhaft wie Performance-Künstler der siebziger Jahre, und aus dem Jenseits grüßt leise Altmeister Murnau herüber. Wieso fehlt der Mehrheit der Fotokünstler die Kraft einer eigenen Behauptung? Weshalb genügt man sich als Wiederkäuer, begnügt man sich mit technischen Spielereien?“ www.weltwoche.ch/archiv Suchbegriff: Ausgabe 03/08. Wie erklärt sich diese rigorose Ablehnung der von Uta Grosenick und Dir ausgewählten Positionen?
Thomas Seelig Muscionicos Verriss – wenn er denn einer sein soll – stellt meiner Ansicht nach eine Behauptung auf, die sie mit ihren Beispielen selbst widerlegt. Die Auswahl der Künstler und deren Arbeitsweisen ist in Photo Art so breit gefächert, dass eigentlich jeder Leser oder jede Leserin mehrere Positionen finden kann, die aus der Polarität „like/dislike“ zu einer Haltung führt, etwas stehen lassen zu können oder abzulehnen. Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Muscionico geht allerdings einseitig polemisierend vor, wenn sie „die Kraft der eigenen Behauptung“ einfordert und im gleichen Zug gerade diejenigen Künstler wohlwollend hervorhebt, die mit dem Zitat arbeiten. Den eigentlichen Kerngedanken der Besprechung sehe ich eher in ihrer fragwürdigen Festschreibung, Fotografie sei als Bildmedium per se „ausgelaugt“ und im negativen Sinne „zeitgeistig“. Da dürften wir dann wirklich wohl konträre Auffassungen haben. Während sich Daniele Muscionico möglicherweise eine „reinigende“ Ordnung erhofft, verstehen wir als Herausgeber von Photo Art einen grossen Teil der zeitgenössischen Fotografie als äußerst facettenreich und durchaus lebendig! Und das zeigen wir.
T.L. Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.
Besprochene Veröffentlichungen
Forschen und Erfinden Herausgeber: Thomas Seelig Scheidegger & Spiess; Auflage: Bilingual (Juni 2007) Sprache: Deutsch, Englisch Gebundene Ausgabe: 132 Seiten ISBN-10: 385881198X www.fotomuseum.ch/ARCHIV.17.0.html
PHOTO ART Fotografie im 21. Jahrhundert Herausgeber: Uta Grosenick, Thomas Seelig DuMont-Verlag, Erscheinungsjahr: Herbst 2007 519 Seiten mit 592 farb. und 101 s/w Abbildungen Flexcover ISBN 9783832177812 . www.dumontliteraturundkunst.de/
weitere Veröffentlichungen als Herausgeber
Sergey Bratkov: Glory Days / Heldenzeiten. Eine ausgewählte Werkübersicht 1995-2007 Thomas Seelig Scheidegger & Spiess 2008
Trans Emilia: Sammlung Linea di Confine Thomas Seelig, Urs Stahel Christoph Merian 2006
Reale Fantasien Neue Fotografie aus der Schweiz Urs Stahel, Thomas Seelig Christoph Merian 2006
Im Rausch der Dinge Vom Funktionalen Objekt zum Fetisch in Fotografien des 20. Jahrhunderts Thomas Seelig, Urs Stahel Steidl 2004
Yet Untitled Sammlung Bernd F. Künne Susanne Pfleger, Thomas Seelig Hatje Cantz 2003
Trade. Waren, Wege und Werte im Welthandel heute Thomas Seelig, Urs Stahel, Martin Jaeggi Museum Winterthur/Scalo 2001