Vor fünfzehn Jahren kam ich zum ersten Mal nach Brasilien, in eine Millionen-Stadt, von der ich noch nie zuvor gehört hatte: Belo Horizonte. Ich war dort, um einen Workshop mit jungen Fotografen und Künstlern durchzuführen. Im Lauf der Jahre bin ich mehrfach aus demselben Grund nach Belo Horizonte zurückgekehrt und habe die Stadt und einige ihrer Bewohner besser kennengelernt. Eine der Bewohnerinnen, die ich seit meinem ersten Aufenthalt kenne, ist Patricia Azevedo.
Belo Horizonte ist modern, kompakt, chaotisch, laut, hässlich, schmutzig. Wer einen authentischen Eindruck vom Leben in einer brasilianischen Großstadt bekommen möchte, ist hier am richtigen Ort. Es ist eine wunderbare Stadt für Realisten. Es gibt hier wenig Pittoreskes, aber reichlich direktes, unverfälschtes Leben. Belo Horizonte ist die drittgrößte Stadt Brasiliens und Brasilien ist ein Dritte-Welt-Land. Aber was heißt das?
Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in Verhältnissen, die sich von denen in reicheren Ländern nur unwesentlich unterscheiden. Daneben gibt es eine überschaubare, aber keineswegs kleine Gruppe von Reichen und Super-Reichen, die in der Luxus-Liga des globalen Jet-Sets spielen – und einen sehr hohen Prozentsatz von Besitzlosen, die in selbstgebastelten Siedlungen am Rande des Existenzminimums ums Überleben kämpfen. Die Bewohner der Favelas sind das nach Belieben auszubeutende Lumpen-Proletariat. Das sind die Leute, die sich um anderer Leute Müll und Dreck kümmern (während sich die anderen einen Scheißdreck um sie kümmern).
Wer von morgens bis abends schuftet, schafft es gerade so, sich zu ernähren, sich – nicht allzu anspruchsvoll – anzuziehen, das Dach des selbstgebauten Häuschens dicht und den Fernseher am Laufen zu halten sowie mit etwas Glück gelegentlich ein Fußballspiel zu sehen. Mehr ist nicht drin, selbst die Träume werden da bescheiden. Wer in der Favela lebt, ist jedoch nicht notwendigerweise unglücklich. Es hätte ja schlimmer kommen können. Wer selbst nicht kriminell wird und seine Kinder von kriminellem Handeln abzuhalten vermag, hat Glück gehabt, und wer es geschafft hat, der Familie eine Hütte zu bauen und diese instandzuhalten, ebenfalls. Denn es hätte noch viel schlimmer kommen können.
Bei meinem ersten Aufenthalt in Belo Horizonte war die Anzahl der offensichtlich Obdachlosen erschreckend, doch noch halbwegs überschaubar. Sie ist seither dramatisch gestiegen. Bei meinem bislang letzten Aufenthalt mußte ich jeden Abend auf dem Weg zu meinem Hotel über die auf den Gehwegen Schlafenden steigen, nicht über einen, nicht über ein paar, über viele. Und ich muß erwähnen, daß nicht alle, die in der Stadt unterwegs waren, sich so vorsichtig anstellten wie ich. Vielleicht war ich aber auch nur nicht lange genug da, man gewöhnt sich wahrscheinlich daran, anderen beim Gehen auf die Hände oder in die Nieren zu treten. Über das Leben der Obdachlosen in Brasilien sollte man sich keine Illusionen machen, gar keine. Jedes Haustier in Europa erfährt deutlich mehr Zuneigung und Fürsorge.
Für engagierte Reporter ist das der Rohstoff, bei dessen Anblick ihnen der Auslöse-Finger juckt: Armut, Obdachlosigkeit, Hunger, Drogen, gepaart mit einem Schuß Exotik. Wir haben ihre Fotos zur Genüge gesehen, und es besteht wohl kein Zweifel, daß sie weniger den Obdachlosen dienen als dem Umsatz der Verlage, die sie unter die Leute bringen. Das Publikum vergießt auf dem heimischen Sofa ein paar Tränen ob der großen, traurig aus schwarz-weißen Doppelseiten schauenden Kinderaugen, während die fotografierende Meute schon zum nächsten Schauplatz weitergezogen ist. Im besten Fall führt diese Praxis zu kurzfristig erhöhtem Aufkommen von Spenden für karitative Organisationen, die die Not vorübergehend lindern, ohne deren Ursachen zu befragen.
Eines Tages nahmen mich Patricia und ihr Partner, Murilo Godoy, mit in eine Favela. Dort war gerade eine kleine Bibliothek eröffnet worden, die – wie die gesamte Favela – von den Bewohnern selbst in Eigeninitiative gebaut worden war. Das Budget dafür war der Profit aus dem Projekt No Mundo Maravilhoso do Futebol, das meine beiden Freunde zusammen mit Julian Germain realisiert hatten. Kurz zusammengefasst handelte es sich dabei um eine Reihe von Workshops, in denen Kinder und Jugendliche aus der Favela Cascalho mit Malerei und Fotografie vertraut wurden. Die teilweise außerordentlichen Bilder, die dabei zum einigenden Thema Fußball entstanden, wurden international ausgestellt, in Magazinen und als Buch veröffentlicht*. Und die dabei eingenommenen Honorare wurden – so entschied es die Gemeinschaft – für den Bau der Bibliothek verwendet. Man kann so etwas in aller Bescheidenheit als Sensation bezeichnen.
Ich weiß, was für eine schwierige Arbeit das war, und ich sah, daß sie sich gelohnt hat. Doch verglichen mit der Arbeit mit auf der Straße lebenden Kindern, deren Resultat wir nun in der Zeitung No Olho da Rua sehen, müssen die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer selbstverwalteten Bibliothek geradezu lächerlich gewesen sein. Man muß sich beim Betrachten der Bilder in jedem Moment die Bedingungen vergegenwärtigen, unter denen diese entstanden. Wie arbeitet man über einen längeren Zeitraum mit jemandem, der weder eine Adresse noch eine Telefonnummer hat? Mit jemandem, von dem man nicht weiß, ob er bald der Droge, einer Krankheit, einem Unfall, einem Verbrechen oder der Polizei zum Opfer fallen wird, ohne daß irgend jemand davon erfahren würde? Mit jemandem, der nicht lesen, nicht schreiben und nicht rechnen lernte und im Abfall der Stadt kaum genug zu essen findet? Mit jemandem, der im Vorhof der Hölle lebt? Es scheint möglich gewesen zu sein, aber wer glaubt, es wäre damit getan, den Kids ein paar Kameras auszuhändigen und diese nach einiger Zeit wieder einzusammeln, muß sehr naiv sein.
Die Bilder selbst brauchen wenig Erklärung, keine Relativierung und keine Rechtfertigung. Sie sind so ungehobelt faszinierend wie ihr Gegenstand, und sie geben uns, die wir nicht viel vom Leben auf der Straße wissen, genug zu sehen und zu denken. In erster Linie aber sind die Bilder wahrscheinlich gar nicht an uns gerichtet. Sie sind für die Kids selber, denn diese haben – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – etwas geschaffen, was nicht der unmittelbaren Befriedigung elementarer Bedürfnisse dient. Wer das geschafft hat, wird wahrscheinlich etwas mehr Achtung vor sich selbst haben als zuvor, kann beginnen zu träumen und wird Phantasien entwickeln können, die den Wunsch nach einer Flasche Coca Cola übersteigen. Die Autoren werden sich außerordentlich gefreut haben und sie werden stolz gewesen sein, als sie die von ihnen geschaffenen Bilder in ihrer Zeitung sahen, und diese Freude und dieser Stolz werden ihr Leben ein kleines bißchen besser machen – selbst wenn sie nicht einmal einen Ort haben, an dem sie ihr persönliches Exemplar der Zeitung aufbewahren könnten. Aber zum Glück gibt es eine Bibliothek in Cascalho, wo sie immer ein Exemplar ihres in großer Auflage gedruckten und kostenlos verteilten Werks finden werden.
Es kursierte früher unter jungen Fotografen die Idee, man könne mit Fotografie die Welt verändern. Viele Lehrer und Kritiker waren aus gutem Grund mit der notwendigen Desillusionierung beschäftigt, und doch ist die Idee vermutlich nicht ganz ausgestorben. Das ist auch ganz gut so, wie wir hier sehen. Es ist möglich. Man verändert nicht viel. Es ist ein mühsames Geschäft ist, dieses Welt-Verändern. Aber es lohnt die Mühe.
* Patrícia Azevedo, Julian Germain, Murilo Godoy: No Mundo Maravilhoso do Futebol, Basalt Publishers, Amsterdam 1998
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Dieser Artikel entstand im Auftrag der in Brighton erscheinenden Zeitschrift Photoworks (www.photoworksuk.org/) und erschien dort in englischer Übersetzung.