Das Publikum ist begeistert. Endlich einmal eine Documenta, die nicht wie ein Ufo vom anderen Stern gelandet ist. Man kann hingehen! Sie holt einen dort ab, wo man steht. Da wird süßen Chinesenkindern Joghurt ins Gesicht geträufelt, die glucksen dann so nett. Überall liegt Material herum – wie das durch die Welt wandert! Die schönen chinesischen Holzstühle. Man kann über das Leben in Indien etwas lernen, oder in Kurdistan Männer singen sehen, nette Leute bei einem Segeltörn beobachten., auch der berühmte Maler Gerhard Richter zeigt seine hübsche Tochter mit roten Lippen, und Harvey Keitel spielt richtiges Theater – nicht so ein Gebrüll und Rumgespritze. Auch die Museumsräume sehen aus wie richtige Museen: warme Farben, Stimmung zum Nachdenken und die Beleuchtung zeigt, was wichtig ist. Ja, und das Leid der Welt ist auch da: die Opfer der Globalisierung in Afrika, die Palästinenser und die Amerikaner mit ihrem Guantanamo, so ein Lager wie Auschwitz. Und ganz wichtig: kein Internet und digitale Verwirrungen. Und tatsächlich, die Führer der D 12 bestätigen die Sensation: „die erste Documenta ohne aggressive Besucher!“
Der Schock für die Kulturschaffenden und Sammler sitzt tief. Aber Vorboten gab es genug. Mit dem Team Buergel und Co wurde konsequent auf Ethno-Kunst, Spiritualität, soziale Kulturarbeit, Anthroposophie und ökologisch-sinnlichen Minimalismus gesetzt. Ein Gedankenspektrum, das schon immer tief im wertkonservativen Bildungsbürgertum verankert ist und traditionell einen Teil der zeitgenössischen Kunst ausmacht. Nur eine entscheidende Änderung gibt es: Es ist so, als hätte man den Jungs von der Weltmusik die Leitung eines internationalen Pop- Festivals anvertraut. Und die hätten nur ihr „Ding“ durchgezogen. Denn konsequent ist das Buergelsche Gesamtkunstwerk: Es beginnt bei den Hemdchen der Aufsicht – weiß, mit Schleifen links und rechts zu binden -, geht über die Möblierung und Gestaltung der Räume als ethnologisches Museum, die Konstruktion der Auehallen als Sommertreibhaus einer Öko-Gärtnerei, das bevorzugte Zwielicht, die Materialien aus dem Bastelladen, den Tanz als Eurythmie, die Schumann- Lieder auf dem Audio-Guide, die begleitenden Worte des Chefs selbst als Narkotikum.
Nichts verstört nachhaltig, die Kunstwerke sind auf „sauber“ gedimmt, ein Wohlfühlprogramm. Der Poesie des Einfachen soll nachgespürt, dem rosaroten Sonnenuntergang wieder Kunstwert zuerkannt werden. Verqueres ertrinkt im Meer des Wohlsein-Müssens, und wenn diskutiert wird, dann darüber, was die Kunst in uns ausgelöst hat. Damit hat Roger M. Buergel gegen den Konsens der bisherigen elf Documentas verstoßen, der hieß: einen Überblick über das aktuelle Kunstschaffen zu geben und nach vorne aufzubrechen.
Buergel ist ein Überzeugungstäter. Endlich darf die Minderheit zur Mehrheit werden. Das kommt gut an, das wird als Widerstand gegen den Kunstmarkt und seine Auswüchsen mit Szenenapplaus bedacht. Sogar das Flaggschiff des depressiven Bürgertums, das Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung, zeigte tiefes Verständnis. Kritik ist von Buergel von vorneherein antizipiert. Gerwald Rockenschaub Post Punk, David Goldblatt mahnend, Gerhard Richter Betty 1977, Allan Sekula Globalisierungsgegner, James Coleman Retake with Evidence, Harvey Keitel Film, alles wird zu einem zähen Brei vermahlen.
Hat die Findungskommission für die Documenta 12 mit den Buergels einen schwerwiegenden Fehlgriff gemacht? Nein! Sie folgte dem Zeitgeist. Und der spiegelt das verunsicherte Bürgertum wieder: Finanziell geschwächt, eingekreist von Ökonomisierungsfantasien, verfolgt von den Machtansprüchen der Politik und einer medialen Öffentlichkeit, die Bildung als Behinderung bewertet. Es wurde die Notbremse gezogen: Back to the roots - Prinzip „Stadttheater“, auf sicheren Boden.
Für die Fotografie – wie auch für Video – hat das katastrophale Folgen. Das Medium wird auf die reine Dokumentation und das journalistische Erzählen reduziert. Der korrekte Inhalt reicht, um als Kunst zu avancieren. Als besondere austro-nostalgische Variante wird die Performance-Fotografie der Hippie- und Underground-Bewegung der frühen Breschnew Ära (1964 -) präsentiert – jeder Dissident ein Künstler. Aber machen wir uns nichts vor, diese Positionen und deren geistigen Hintergrund finden wir auch alltäglich in den großen Häusern: Ludger Derenthal im Fotomuseum Berlin mit "Philipp Schönborn: Licht" (2004); Tobia Bezzola im Kunstmuseum Zürich mit Miroslav Tichy (2005); Heiner Bastian, “Fragmente zur Melancholie. Bilder aus dem ersten Jahrhundert der Fotografie“, Neues Museum (2006) und so weiter.
Aber das ist auch ein Zeichen der Krise, aber nicht die Krise der Künstler, sondern die des Kulturbetriebs und des gesellschaftlichen Gefüges. Wo Hedge-Fonds-Ereignisse auf dem zweiten Kunstmarkt zu kulturellen Ereignissen hochgeschrieben werden, Kritiker Dienstleister des Marktes sind, autistische Kuratorentexte die Kommunikation mit dem Publikum verweigern, öffentliche Posten als Lehngüter behandelt werden – um nur einige Positionen zu nennen –, ist die Frustration des Publikums vorprogrammiert.
Für diesen negativen Befund liefert Klaus Biesenbach, der Übervater der Kunstwerke Berlin, ein aktuelles Beispiel. In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Verfolgen Sie die Kunst, Herr Biesenbach?“ (FAZ vom 2.7.07) wurde ihm eine ganze Seite gewidmet. Nun sollte man ja meinen, dass er auch über die D 12 Tacheles reden würde. Aber nein, ausführlich informiert er uns über sein Junggesellendasein, seine Methoden, Koffer zu packen, seinen Abscheu vor den Autos und sonstige privaten Marotten. Als Experte zur D 12 befragt, sagt er nur: „Kassel hat mich völlig ratlos gemacht. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“ Tja, das macht eben auch ratlos. Zwar ist sein offenes Messer in der Tasche spürbar, doch bleibt nur eitles PR-Gequatsche, Diskursunwilligkeit und eben auch mangelnde Courage.