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Texte zur zeitgenössischen Fotografie und digitalen Bildkunst
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von Thomas Leuner


Was ist auf einem Foto-Bild zu sehen? Und was wird vom Betrachter in das Bild hineininterpretiert? Fragen, die seit Jahren die Bildwissenschaft bewegen, aber auch zu der paradoxen Feststellung führt: Die Absender der Abermillionen digitalen Fotos, die im Internet ausgetauscht werden, vertrauen blindlings darauf, dass ihre Fotos vom Empfänger auch so „gesehen“ werden, wie sie ihre Fotos „sehen“. Ein naiver Glaube?
Dieser und weiteren Fragen zum Komplex der fotografischen Bildsprache widmet sich die Reihe „Look at it!“ – mit von den Autoren selbst ausgewähltem Fotomaterial. Weil für einen der Gesprächspartner die jeweils diskutierte Fotografie und deren Kontext unbekannt ist, entsteht der Reiz dieses Formats in der Konzentration auf die Frage: Was ist auf dem Bild wirklich zu sehen, und wie wird sein Inhalt nachträglich durch Assoziationen und Kontextdeutungen verändert und manipuliert?


Zum Auftakt der Reihe heißt es daher:„Look at it!“- auf das Foto Nr.1. Es wurde von Thomas Leuner ausgewählt und ist Hans Dürrer unbekannt.


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Thomas Leuner


Das Foto Nr. 1 ist deutlich durch die Porträtreportageauffassung geprägt, wie sie in den 1930er-Jahre stielbildend war. Indizien für die Zeit: das Brillenmodell, die Art der Zigarette, das schmale, asketische Gesicht vom Typ männlicher Intellektueller, der Haarschnitt und erkennbare Teile der Kleidung wie Hemd und Krawatte. Wahrscheinlich wurde die Aufnahme mit einer Leica oder einer ähnlichen kleinen Handkamera gemacht. Wegen des quadratischen Formats des Bildes könnte es sich auch um eine 6×6-Kamera mit Rollfilm gehandelt haben.

Das Reportagehafte ergibt sich aus dem Fotografieren „in die Bewegung hinein“: Das Gesicht wird in dem Moment fotografisch eingefangen, in dem der Porträtierte sich die Zigarette zwischen die Lippen steckt und zum Zug ansetzt. Es ist kein Zigarettenrauch erkennbar. Diese Aufnahme eines Moments, der mit dem menschlichen Auge als statisches Bild nicht erfassbar ist, gelingt technisch erst mit den damals neuen Handkameras und lichtempfindlichen Schwarz-Weiß-Filmen. Der Fotograf kann sich den Bewegungsablauf vorstellen und weiß daher, wann er auslösen muss. Diese Bilder in die Bewegung hinein fotografiert ähneln Film-Stills, Stills aus dem Dauerfilm Wirklichkeit. Jedes für sich ist ein kurzer Moment der Teilhabe an einer Zeitreise, der Teilhabe an einer Begebenheit, die zufällig scheint, aber vom Fotografen besonders ausgewählt und historisch verbürgt ist.


Der Porträtreportage-Stil wird noch durch weitere Merkmale im Bild verstärkt: Die Aufnahme entstand unter freiem Himmel, möglicherweise in einem Garten, im Hintergrund sind dunkle Bäume und Sträucher zu erahnen. Von rechts oben fällt grelles Sonnenlicht auf das Gesicht. Der Fotograf steht beim Auslösen in unmittelbarer Nähe des Porträtierten, ein Augenkontakt zwischen dem Fotografen und dem Porträtierten besteht nicht. Der Blick der Kamera kommt leicht von unten, so als wäre der Fotograf etwas kleiner oder als hätte er nicht von Augenhöhe aus fotografiert. Auch die Lichtverteilung und die darauf reagierende Art und Weise des Fotoabzugs unterstreichen das Momenthafte der Aufnahme: Die Teile des Gesichts liegen im Schatten, sind jedoch in ihren einzelnen Nuancen deutlich erkennbar. Die hellen Gesichtspartien, die Hand und der Kragen sind dagegen überbelichtet und ohne Grauzeichnung; sie machen den Eindruck, von einem die Augen blendenden Licht beschienen zu sein. So entsteht ein reizvoller Kontrast zwischen der erkennbaren Gesichtsfläche und dem stilisierten Gesichtsprofil.
Dem Betrachter wird dadurch deutlich signalisiert, der Fotograf wollte die starren Regeln der traditionellen Porträtfotografie durchbrechen.



Hans Durrer


Ich bin kein Fotograf, verstehe von den technischen Aspekten des Fotografierens so ziemlich gar nichts. Als ich das dem Supervisor meiner Magisterarbeit über Dokumentarfotografie an der Universität Cardiff, Daniel Meadows, kundtat, lachte dieser und meinte, der wohl talentierteste und einflussreichste Bildredakteur Großbritanniens (seinen Namen habe ich vergessen, das liegt 15 Jahre zurück), ein Freund von ihm, könne gerade einmal sagen, wo sich der vordere und der hintere Teil der Kamera befänden. Ich interpretierte das als typisches britisches Understatement, doch auf mich trifft Daniels Charakterisierung eindeutig zu.
In Bezug auf das hier vorliegende Bild meint das: Ich sehe mich außerstande, nur schon Vermutungen darüber anzustellen, ob diese Aufnahme, wie du sagst, mit einer Leica, einer anderen Handkamera oder einer 6×6-Kamera mit Rollfilm aufgenommen worden ist. Zudem: Entstand diese Aufnahme wirklich im Freien? Das Sonnenlicht lässt zwar darauf schließen, doch vermag ich im Hintergrund keine dunklen Bäume und Sträucher zu erahnen.
Als ausgebildeter Fotograf findest du sicher vor allem Interesse daran, wie der Fotograf vorgegangen ist und was er beabsichtigt hat. Mich hingegen beschäftigt dieser Aspekt nicht. Mir wäre daher gar nicht in den Sinn gekommen, dass der Fotograf sich möglicherweise von den starren Regeln der traditionellen Porträtfotografie absetzen wollte. Auch natürlich, weil ich selber gar nicht so recht weiß, was die traditionelle Porträtfotografie ausmacht.
Meine erste Reaktion auf Fotos ist immer eine instinktive: Ich fühle mich vom Bild angezogen oder es lässt mich gleichgültig. Die vorliegende Porträtaufnahme gefällt mir. Ich kann die abgebildete aber Person nicht zuordnen, doch wie für dich repräsentiert sie auch den Typ männlicher Intellektueller. Die erste spontane Assoziation: Ich fühle mich an eine Aufnahme von Schostakowitsch erinnert. Und, doch viel weiter entfernt, an meinen Vater, doch stimmen da bei näherem Hingucken ganz viele Details nicht, etwa die Nase, die Hände, der Mund. So recht eigentlich ist da wenig, das mit meinem Vater übereinstimmt.
Schon gar nicht der Mund, der wirkt auf mich clownesk, als ob mit Lippenstift behandelt. Und die gespreizten Finger, der Ring sehr manieriert. Ein eitler Mann, der sich für den Fotografen inszeniert. Der fehlende Zigarettenrauch unterstreicht das Gestellte der Aufnahme. Das stört mich nicht, ich nehme an, der Mann setzt sich so in Szene, will so wahrgenommen werden. Oder täusche ich mich und der Fotograf wollte ihn so aufnehmen?



Thomas Leuner


Ich weiß es nicht. Man könnte diese Frage wahrscheinlich nur beantworten, wenn man sich mehrere Fotos des Fotografen ansieht. So würde sich zeigen, ob das ein Stilprinzip seiner Porträts war.
Mich erinnert die Aufnahme auch an eine Fotografie von meinem Vater, der als jüngerer Mann ein ähnlich asketisches Gesicht hatte und in diesem Foto auch vom gleichen Blickwinkel aus im Halbprofil gezeigt wird – auch unter freiem Himmel im Halbschatten. Somit scheint sich für uns zu bestätigen, dass es scheinbar eine Konvention des modernen Porträts gab, die vom Bild Nr. 1 abgedeckt wird.


Aber noch einmal zurück zu der Frage, ob ich den Blick eines Fotografen habe. Der spontan assoziative Zugang zu einzelnen Fotografien wird nicht nur von dir vertreten, sondern mehr oder weniger offen auch von namhaften Autoren und Kritikern. Für die Einschätzung von Fotografien benötige man keine Ausbildung, man müsse ja nur auf das Bild sehen, da sei alles drauf. Der Kunsthistoriker und Kurator Jean-Christophe Ammann, der sich in seinem Berufsleben sehr für die Fotografie als Teil der Kunst eingesetzt hat, räumte in einem Interview ein, es sei ihm sehr unangenehm, durch den Sucher einer Kamera zu schauen. Mit anderen Worten, er hat selbst nicht fotografiert und keine Vorstellung, wie der Fotograf durch den Sucher die Welt sieht. Meiner Meinung nach ist das ein problematischer Zugang zur Fotografie. Man kann diese Einschätzung auch festmachen an deinen Zweifeln, dass die Aufnahme im Freien entstanden ist und sich im Hintergrund Bäume und Büsche befinden.
Wenn man durch den Sucher der Kamera blickt, hier auf die Mattscheibe einer 6×6-Kamera, sehen Bäume und Sträucher im Hintergrund eben so aus. Dies ist die besondere Ästhetik und Bildsprache des mechanischen Blicks: Ich habe vor dem Auge eine Camera obscura, ich sehe die Welt anders. Wenn man diese Welt nicht kennt, kann man sie nicht lesen und deuten. Es bleibt natürlich die Frage, ob man für das Verständnis einer Fotografie überhaupt wissen muss, ob im Hintergrund Bäume und Sträucher standen oder beispielsweise eine Hauswand.



Hans Durrer


Ich finde es sehr speziell, dass dich diese Aufnahme auch an eine Fotografie deines Vaters erinnert. Bei mir hat die Assoziation allerdings nichts mit dem gleichen Blickwinkel im Halbprofil unter freiem Himmel im Halbschatten zu tun, sondern mit den Gesichtszügen, der Brille sowie auch mit dem Hemd und der Krawatte. Es hat also weniger mit dem zu tun, was mir wie gezeigt wird, sondern mit dem, was ich zum Bild bringe. Damit will ich nicht bestreiten, dass es eine solche Konvention des modernen Porträts gegeben haben kann.
Ich stimme zu, mit einer Kamera vor dem Auge sehe ich die Welt in der Tat anders. Dass es jemandem unangenehm ist, durch den Sucher zu blicken, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Ich habe meine liebe Mühe mit Kameras, bei denen man nicht mehr durch einen Sucher sieht, sondern nur noch aufs Display blickt, weil ich da eigentlich fast nur noch mit dem Einrahmen beschäftigt bin.
Durch den Sucher auf die Welt zu blicken, erlebe ich als Fokussierung. Ich schätze das, weil meinem „Sehen“ damit eine Richtung gegeben wird. In Abwandlung eines Zitats von Dorothea Lange gilt für mich: Die Kamera ist ein Instrument, das mich das „Sehen“ ohne Kamera lehrt.
„Wenn man durch den Sucher der Kamera blickt, hier auf die Mattscheibe einer 6×6- Kamera, sehen Bäume und Sträucher im Hintergrund eben so aus.“ Ich deute diesen Satz so, dass jeder, der das tut, Bäume und Sträucher sehen wird – und bin mir da nicht so sicher. Zugegeben: Ein Blick auf die Welt mit einer Kamera ist eben ein anderer als einer ohne Kamera. Woran ich mich stoße, ist die Implikation, dass nur wer selber zu fotografieren weiß, „fotografisches Sehen“ beurteilen kann/darf/soll. Und das sehe ich überhaupt nicht so. Vielmehr halte ich dieses in unserer Gesellschaft gängige Auf- und Unterteilen von allem und jedem für extrem ungut. Wir brauchen nicht mehr Spezialisierungen und Experten, sondern weniger.



Thomas Leuner


Bevor ich offenlege, wer der Fotograf und wer der Porträtierte ist und was sich daraus ergibt, möchte ich noch einmal auf das Foto selbst zurückkommen. Natürlich ist „fotografisches Sehen“ ein etwas doktrinärer Begriff, da er vom Wissen eines Spezialisten ausgeht und andere Bildbetrachter ausschließt. Aber es gibt natürlich ein „fotografisches Sehen“, wie es auch ein absolutes Gehör bei Musikern gibt. Der Musiker hat sozusagen eine Stimmgabel im Kopf, trifft also die Tonhöhe richtig, weil er sie in seiner gedanklichen Vorstellung hört. Bei einem ausgeprägten visuellen Gedächtnis kann der Fotograf sich das Bild vor dem Blick durch den Sucher/Mattscheiber vorstellen; der Akte des Fotografierens ist dann der Versuch, das im Kopf gesehene Bild technisch umzusetzen und zu materialisieren.


Mit geübtem Auge kann man erkennen, ob ein Foto „gesehen“ oder mit dem Sucher/Mattscheibe „konstruiert“ wurde. Henri Cartier-Bresson, als Beispiel, ist ein typischer Fotograf, der in Bildern sieht. Nur war er so verliebt in seine Fähigkeit, dass ihm, je älter er wurde, die Inhalte verloren gingen. Das In-Bildern-Sehen führt eben nicht dazu, wie auch beim absoluten Gehör, dass man dabei automatisch Kunst produziert, vielmehr ist es die Grundbegabung für Spitzenleistungen in der kamerabasierten Fotografie. Natürlich ist das In-Bildern-Sehen, wie beschrieben, ein Phänomen für Spezialisten und führt keinen Schritt weiter bei der Frage, was ich auf dem Foto sehe und was ich hineininterpretiere.
Es ist ganz simpel, darin stimme ich dir zu: Man muss nur mit gesundem Menschenverstand das Foto ganz sorgfältig immer wieder betrachten. Je vertrauter man mit dem Bild wird, je länger man darüber „meditiert“, umso mehr öffnen sich einzelne Schichten der Bildinformationen. Fotografie ist nicht nur Grafik, sondern auch Malerei, Naturalismus und abstrakte Form, Seh- und Erkenntniserfahrung sowie historisches Bilderwissen und Spiegel der eigenen Fantasie.


Große, gerade Nase mit schön geschwungenen Nasenflügeln und Nasenlöchern, schütteres Haupthaar, schmales, hochovales Gesicht, dazu als deutlicher Gegensatz die breiten Lippen, die zum Ansaugen des Rauchs um die Zigarette geschürzt sind: Ja, deinen Eindruck kann ich bestätigen ‒ der Mund, der an der Zigarette saugt, erinnert an einen Frauenmund, mit deutlichen erotischen Implikationen.
Das Foto dürfte kein Schnappschuss sein, dazu ist es zu ästhetisch, zu gut komponiert; vermutlich ist es bei einer Porträt-Session entstanden. Das Gegenlicht konturiert eine gewisse Dramatik, die verstärkt wird durch den Eindruck, von rechts würde der Wind ins Gesicht wehen; das feine, hinten aufgestellte Haupthaar scheint gezaust. Die Person ist in sich versunken, nicht in einem Gespräch, die Stirn in Falten gezogen. Die Linkshändigkeit verstärkt das Unvertraute; mit den beiden schmalen, langen Mittelfingern hält der Porträtierte die Zigarette am Mund, die Hände sind manikürt.
Der Zustand der Haare und der verkrumpelte Button-down-Hemdkragen – die Krawatte ist zu breit und passt nicht richtig unter den Kragen – stehen im Kontrast zu der von dir richtig konstatierten Eitelkeit der Person.
Ich finde, sie dominiert aber nicht, vielmehr überwiegen die reportagehaften Indizien der Unruhe, der Nervosität, des Unsteten.



Hans Durrer


Deine Feststellung, das Fotografieren sei die technische Realisation des im Kopf gesehenen Bildes, fasziniert mich. Nur bin ich nicht sicher, ob sie wirklich stimmt. Meine Erfahrung ist jedenfalls eine andere: Ich bin immer wieder überrascht, dass das Bild, das ich im Kopf habe, von dem Bild, das die Kamera macht, immer etwas abweicht. Barry Lopez geht noch etwas weiter: „… I realized that just as the distance between what I saw and what I was able to record was huge, so was that between what I recorded and what people saw.“
Ebenso spannend finde ich deinen Satz „Mit geübtem Auge kann man auch erkennen, ob ein Foto ‚gesehen‘ oder mit dem Sucher ‚konstruiert‘ wurde.“ Ich kann das nicht beurteilen, mir fehlt dieses Auge.
Was sehe ich noch? Keinen Schnappschuss, da gebe ich dir recht, doch sehe ich keine in sich versunkene Person, sondern einen Mann, der sich der Kamera sehr bewusst ist und, ich wiederhole mich, sich inszeniert. Auch wirkt er auf mich nicht so, als ob er wirklich raucht, sondern als würde er nur so tun.
Gehe ich davon aus, dass diese Aufnahme gestellt ist, beeinflusst das meine Betrachtungsweise. Das Bild sollte dann nicht einfach vom Fotografen her gesehen werden, denn einer, der sich inszeniert, tut dies entweder gemäß Anweisungen des Fotografen oder nach seinen eigenen Vorstellungen. Mit anderen Worten: Eine Porträtaufnahme ist bis zu einem gewissen Grad auch immer ein Gemeinschaftswerk.
Mich beschäftigt vor allem das zerzauste Haar. Wäre wirklich der Wind dafür verantwortlich, hätte der Porträtierte dann nicht die Augen zugekniffen? Angenommen, das Bild ist, wie ich vermute, gestellt, wäre ja auch möglich, dass das Haar so nach hinten geföhnt worden ist. Es wirkt auf mich nicht besonders zerzaust, sondern wie nach hinten geblasen.
Trotz unserer unterschiedlichen Wahrnehmung und Einschätzung empfinde ich das Bild ebenfalls hauptsächlich geprägt durch, wie du es nennst, „Indizien der Unruhe, der Nervosität, des Unsteten“.



Thomas Leuner


Nun lüfte ich die Identität des Bildes: Der Porträtierte ist Hubertus Prinz zu Löwenstein, ein junger Politiker der ausgehenden Weimarer Republik, der aufgrund seiner demokratischen Gesinnung 1933 ins amerikanische Exil gehen musste. Fotograf ist der Berliner Fritz Eschen, aufgenommen wurde das Foto im Jahre 1930.
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Fritz Eschen überlebte als Halbjude nur mit großem Glück die Zeit des Nationalsozialismus, seine fotografische Karriere beschränkte sich auf die kurze Zeit vor 1933 und auf die Epoche des zerstörten Nachkriegs-Berlin. 1964 verstarb er auf einer Reportagereise in Österreich.


Bei Gesprächsbeginn war mir der Porträtierte nicht bekannt, ich wusste nur, dass das Foto von Fritz Eschen stammt, und zwar aus seiner Fotografenzeit vor 1933. Ich hatte das Bild in „Photographie als Kunst“ gefunden, einem Katalog der Berlinischen Galerie aus dem Jahr 1989, der anlässlich der Ausstellung „Zehn Jahre Photographische Sammlung 1979-1989“ erschienen war.


Nun habe ich noch weiter recherchiert. Die Arbeiten von Fritz Eschen wurden in den 1980er-Jahren vom Fotokurator der Berlinischen Galerie, Janos Frecot, wiederentdeckt und für die Öffentlichkeit aufgearbeitet. Dies geschah in Zusammenarbeit mit dem Sohn Klaus Eschen, der ein bekannter linker Strafverteidiger in Westberlin war und mit Horst Mahler und Hans-Christian Ströbele dem Sozialistischen Anwaltskollektiv angehörte.
Trotz aller Bemühungen um den Nachlass von Fritz Eschen blieb er nur eine Randfigur der Fotogeschichte, die auf das Berlin der ausgehenden Weimarer Republik und die Trümmerjahre nach 1945 beschränkt ist. Sicherlich eine dieser tragischen Biografien von Personen, die nach 1933 keine Möglichkeit mehr hatten, ihren Beruf und ihre Berufung adäquat leben zu können.


Für unser Bild habe ich die Beschreibung der fotografischen Konzeption bei Wikipedia gefunden:
„Fritz Eschen war als Porträtfotograf bekannt. Neben Auftragsarbeiten entstanden Aufnahmen von Menschen, die ihn interessierten: Industrielle, Künstler, Politiker, Schauspieler, Schriftsteller und Wissenschaftler. […]
Die Basis für seine Arbeit war die Beschäftigung mit den darzustellenden Personen vor der eigentlichen Porträtaufnahme. Fritz Eschen betrachtet deren Werk und Wirken näher. Da er die Menschen an den ihnen vertrauten Orten aufsuchte – bei der Arbeit, im Atelier, im Büro, zu Hause oder an Orten ihres Lebens –, entstammte das Ergebnis nur selten aus der typischen Porträtsitzung. Vielmehr entstanden Aufnahmen, die sich aus Gesprächssituationen heraus entwickelten und typische Gesten und Mimiken festhielten. Eschen vermittelte mit seinen Fotografien ein mannigfaltiges Bild von Charakteren und Persönlichkeiten und auch vom Verhältnis zwischen dem Fotografen und dem Fotografierten. Während dieses Prozesses produzierte er oft mehr als 15 Aufnahmen, die sich im Gestus des Moments oder im Wechsel der Situationen unterscheiden. […]“


Deutlich wird, dass wir in unserem Gespräch den fotografischen Ansatz des reportageartigen Porträtierens erkannt haben, also auch noch Jahrzehnte nach der Entstehung des Fotos. Gleiches gilt für die Wirkung des Bildes, wir hatten aus dem Bildsetting „Indizien der Unruhe, der Nervosität, des Unsteten“ festgestellt. Warum das heute noch auf den Betrachter so wirkt, ist sicherlich ein Qualitätsmerkmal des Fotos, aber auch eingehender Betrachtung wert.


Diese Bildsetting dürfte auch der historischen Situation entsprechen. Der Porträtierte und der Fotograf waren durch die politische Weiterentwicklung der ausgehenden Weimarer Republik und deren bürgerkriegsähnliche Verhältnisse mit Tendenz zur Diktatur persönlich betroffen: Hubertus Prinz zu Löwenstein als katholischer Demokrat der Zentrumspartei und Fritz Eschen als Fotoreporter für die republikanische Presse und persönlich belastet durch seine jüdische Abstammung. Auch unsere kleinen Beobachtungen scheinen plausibler zu werden: Einmal war Hubertus Prinz zu Löwenstein als Mitglied der bayerischen Adelselite ein eitler Mann, das belegt deutlich ein Pressefoto aus dem Jahre 1936.http://www.fotokritik.de/imgblog_35.html
Und: Uns beiden war auch der beim Rauchen sinnlich zusammengezogene Mund aufgefallen ‒ ein katholischer Mund?



Hans Durrer


Über den „katholischen Mund“ muss ich sehr schmunzeln, mir selber stellten sich Assoziationen zum Berlin der 1920er-Jahre ein.
Bin ich überrascht? Bin ich nicht, denn mir war der Mann gänzlich unbekannt. Aus mir nicht bekannten Gründen kamen mir immer wieder Fotos (genauer: meine Erinnerung an Fotos) von Wittgenstein und Schostakowitsch in den Sinn. Nicht etwa, dass ich geglaubt hätte, es handle sich bei dieser Aufnahme um den einen oder den andern, doch die beiden waren mir ständig präsent. Und das ist ein Phänomen, das mich sehr umtreibt: dass beim Betrachten einer Aufnahme immer auch ganz andere Aufnahmen mitschwingen, die mir manchmal mehr und manchmal weniger bewusst sind.
Ich habe mich gar nicht wirklich gefragt, wer es sein könnte. Obwohl ich sehr gerne Krimis lese, liegt mir das Auflösen von Rätseln nicht. Ich lese Krimis nicht, weil ich wissen will, wer der Täter ist, sondern weil mich die Schilderungen der sozialen Settings interessieren, die mich vor allem dann packen, wenn sie schnörkellos und ohne literarischen Anspruch daherkommen. In Sachen Porträtbild meint das: Ich erwarte vom Fotografen, dass er mir sagt, wen ich vor mir sehe – sofern das wichtig ist.
Hat das Bild durch den Kontext eine andere Bedeutung erhalten? Eigentlich nicht, und wenn, dann nur unwesentlich. Und das erstaunt mich. Obwohl: Da ich jetzt weiß, dass sich die Aufnahmen aus Gesprächssituationen heraus entwickelt haben, hätte ich gerne gewusst, was für ein Gespräch diesem manierierten, gespreizten Sich-in-Szene-Setzen vorangegangen ist.

Anhang


Ein Abzug des besprochenen Bildes befindet sich in der Photographischen Sammlung der Berlinischen Galerie (Größe 21,7 × 42,4 cm, abgedruckt in dem Katalog „Photographie als Kunst, als Photographie. Zehn Jahre fotografische Sammlung der Berlinischen Galerie“ (1989).
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de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Eschen


de.wikipedia.org/wiki/Hubertus_Prinz_zu_Löwenstein-Wertheim-Freudenberg
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12.12.2014


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Schlagworte: Fritz Eschen, Bildgespräche, Bildwissenschaft, fotografisches Sehen, Kamera als Instrument des Sehens