Diese Ausgabe der „fortlaufenden Anmerkungen“ beschäftigt sich mit dem „Zeitenwechsel in der Fotografie“, der durch die fotografische Revolution der digitalen Aufzeichnung des Lichts entstanden ist. Dabei steht nicht das „revolutionäre technische Ereignis“ im Vordergrund, sondern die Kulturschaffenden. Diese werden bei ihrem „Verlust der Orientierung“ beobachtet, unter anderem: Thomas Weski, (Kurator, Haus der Kunst München), Christoph Schaden (DGPh, Kritiker der jüngeren Generation), Martin Parr (Fotograf, Herausgeber von Anthologien, Manager), Rudolf Kicken (Galerist).
Themen: 1. Der Sammler als Künstler – Verrat des Kurators? 2. Der Fall Martin Parr oder: Wie autonom ist die Fotokunst? Mit Foto- Blog „Facies Dolorosa“. 3. Weint Berlin?
1. Der Sammler als Künstler – Verrat des Kurators?
Dem Künstler als Leitfigur folgten der Kurator und nun der Sammler
Thomas Weski, Kurator des Hauses der Kunst, München: „Danach war ich in Basel bei Ruth und Peter Herzog (er ist der Bruder von Jacques Herzog von Herzog/de Meuron), die in 30 Jahren eine fotografische Wunderkammer gesammelt haben. Nicht immer die großen Namen, auch viel private Fotografie, die mich immer schon interessiert hat und viele Absonderlichkeiten der Fotografie des 19. Jahrhunderts: eine Eissprengung mit Hilfe von Dynamit, eine Typologie von Ohren (eines Arztes), eine wunderschöne, aber vollkommen unerklärliche Sachaufnahme eines Reissacks. Diese Ausstellung werden wir im April nächsten Jahres zeigen.“
Anmerkung: Das löst Unbehagen aus. Handelt es sich um eine Sammlung historischer Gebrauchsfotografie, um Kuriosa, um ein Privatarchiv oder um eine Sammlung mit künstlerischem Konzept? Sind die Herzogs „naive Sammler“? Haben Künstler nicht auch ihre Archive? Ein Archiv ist aber keine Sammlung.
„Eine Ausstellung Partners von Chris Dercon und mir war die Präsen- tation der Sammlung von Ydessa Hendeles. Diese Sammlung vereint high art und sogenannte low art. Hendeles, die Sammlerin, Geschäfts- führerin ihrer Stiftung, Direktorin ihres Schauraums und Kuratorin ihrer Ausstellungen in Toronto ist, schafft es seit längerem, in ihren Ausstellungen, die als Geheimtipp gehandelt werden und die sie ausschließlich aus ihrem Sammlungsbestand zusammenstellt, einen spannenden und aufschlussreichen Dialog zwischen verschiedenen Kunstformen und Trivialkunst herzustellen. In einem Kapitel ihrer Ausstellung im Haus der Kunst hat sie über 4.000 Fotografien arrangiert, die sie auf Internetversteigerungen erworben hat. Das waren in der Regel anonyme Aufnahmen, die aber alle denselben Gegenstand zum Bildmotiv hatten: Teddybären. Wenn man als Besucher diese Räume mit wandhohen thematischen Typologien durchschritt, wurde der Teddybär irgendwann zum weißen Fleck und man fing an, den Rest des Bildes zu betrachten und konnte dann eigentlich die Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand dieser auf den ersten Blick trivialen und banalen Erinnerungsfotografien nachvollziehen. Zugleich konnte man den kuratorischen Zugriff (den in diesem Kontext fast perfiden Kniff) eines Gleichschaltens der Rezeption des Publikums spüren, das in Verbindung mit der Beschäftigung der Geschichte des Nationalsozialismus als Thema der Ausstellung und des Hauses der Kunst als Präsentationsort (das 1937 für die nationalsozialistische Propagandakunst Hitler von Industriellen geschenkt wurde) eine besonders eindrucksvolle und nachhaltige Wirkung hatte. Das war eine sehr komplexe Ausstellung, die natürlich weitere Komponenten hatte und die auf drei Erzählsträngen aufbaute. Aufgrund der Kombination dieser Inszenierung und ihres Inhalts war Partners viel beachtet und wird immer wieder als mögliches Modell für Ausstellungen genannt. Die nicht-künstlerische Fotografie war hier genauso wie die künstlerische Fotografie zusammen mit anderen Formen der Bildenden Kunst Teil einer kuratorischen Strategie ...“
Anmerkung: Dazu ein Interview mit dem fiktiven Sammler/Künstler Charles Bullermann, das ich im Jahre 1997 anlässlich der Präsentation des „dicklichen Jungen“ im Haus am Kleistpark, Berlin, aufgezeichnet hatte:
T.L.: Bei deiner Präsentation des „dicklichen Jungen“ hat mich besonders die Künstlichkeit und Theatralik beeindruckt, diese Inszenierung von Monochromasie und Blabla-Kunst als Words and Pictures der existenziellen Entfremdung. C.B.: Ja, du hast Recht! Dieser Aspekt war mir besonders wichtig. Das Leblose, das Kindlich-Abstrakte sagt nichts. Darin spiegelt sich adäquat der Titel der Zusammenstellung wieder. Diese Untersuchung des Nichts habe ich dann versucht in „I;I;I -20“ mit weiteren Aspekten zu bereichern. Und das gegen alle Erwartungen, ohne Metaphern, nur Identität! T.L.: Und die Subtilität der Grausamkeit? Lag darin die Provokation, die zu der großen Zäsur in der öffentlichen Rezeption geführt hat? C.B.: Genau! Ich habe auch den „50er-Jahre-Blick" verinnerlicht. Aber die radikalste Sammlerphantasie ist immer noch die Zerstückelung der Bilder. Dem steht das Digitalisieren fast gleich. Das hatte ich im Projekt „der Hausmeister hat den Schlüssel noch“ zu zeigen versucht. Die subversive Potenz dieses Vorgehens offenbart sich in der schrankenlosen Abrufbarkeit, in dieser zutiefst demokratischen Nutzbarkeit, dem kontrollierten Markt mit kalkulierbaren Preisen. Dabei wird die künstlerische Idee vor der Vernichtung durch seine Verarbeitung ins klassische Kunstwerk bewahrt. T.L.: In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf das Primäre, das Blau, zurückkommen. In deiner auf den „dicklichen Jungen“ folgenden Zusammenstellung „decided to take a quick nightcap“ war dieses Primäre, die Sammlung von künstlerischen Vorlagen zu hochkulturellen dekorativen Events das entscheidende Merkmal. Wo ist da jetzt die Weiterentwicklung? C.B.: Richtig! In der jetzt geplanten Zusammenstellung kommt es mir darauf an, dass der Titel seinen Sinn behält, obwohl die Bilder alle nicht mehr vorhanden sind. Das einheitliche Format und die Unkenntnis über die Künstler lassen diese Bildschimären der populistischen Bilddarstellungen als einen Kommentar erscheinen, den niemand mehr entschlüsseln kann. Sie stellen etwas völlig Neues dar, eine radikale Verkehrung der Bildwelten der Kunstgeschichte. T.L.: Versteckt sich aber nicht hinter diesem konzeptionellen Kontext und der Suche nach der Primärkunst im vorgelagerten Raum der Subprimärkunst der Begriff der diskutanten Grausamkeit? C.B.: Nein! Das ist falsch! Die heutigen Museen wirken wie erratische Blöcke einer untergegangenen Epoche! Dies hier einmal öffentlich gesagt zu haben, erfüllt mich mit großer Genugtuung ... Das vollständige Gespräch ist unter http/kiku.com.dickl.jung.net zu finden.
Anmerkung: Hinter dem Verrat des Kurators am Künstler steckt die „Entliterarisierung der Bilder“. Dies führt zu Verunsicherung. Der Kunsthistoriker Aby Warburg hat schon Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts mit einer Sammlung fotografischer Reproduktionen experimentiert und sie zu "mnemosyne" Atlanten zusammengestellt, als kollektives Gedächnismodell für das existenziell bedrohte europäisch-humanistische Denken. Die Frage „Was ist ein Bild“ scheint sich mit dem Vordringen des Massen-Bildes unentwirrbar kompliziert zu haben. Konnte man noch 1986 wie Stephan Schmidt-Wulffen in Kunstforum International (Thema: Inszenierte Fotografie, Nr. 83, Seite 76) den „Kampfplatz Bild“ als einen Zweikampf zwischen den „Bildproduzenten“ als Massehersteller und „Künstlern im Kunstlabor“ prognostizieren, so haben sich heute auch diese Orientierungslinien aufgelöst.
Aber außerhalb der Kunstdebatte wird einfach „gemacht“. Zum Jahresende füllte die australische Online-Filmzeitung Rouge ihre Ausgabe nur mit „film-stills“, jeweils ein Bild von einem Kritiker, eingeleitet mit den schönen Sätzen:
„What does it mean to take and offer an image from a film - to capture a frame from a DVD or video, to keep a rare or unusual still from a book or magazine, to point a camera at a TV screen, or to draw one's impression of a special cinematic moment?" www.rouge.com.au/5/intro.
Es ist der Check des Verhältnisses von Sprache zu „Bildsprache“. Noch radikaler ist die zeitgenössische Naturwissenschaft: Zum Beispiel unter „figure 1: pink1 mutants exhibit mitochondrial and individualization defects in spermatids“ werden für den Laien kryptische Bildtafeln von Ergebnissen medizinischer Diagnosegeräte zu Atlanten gruppiert, als präzise Informationen über neue Erkenntnisse in „the Parkinson's disease“. www.nature.com
2. Die Fotografie als autonome Kunst
Von Caligari bis Hitler
Der Soziologe und Filmkritiker Siegfried Kracauer (1889 bis 1966) gab seiner Essaysammlung über den Film der Weimarer Zeit den Titel „Von Caligari bis Hitler“. Damit sollte der Film als gesellschaftlicher Tagtraum die Entwicklungslinie des expressionistischen Stummfilms hin zur Totalität eines Führermythos aufzeigen. Ein Werk des jüdischen Exilanten Kracauer, das erst wieder in den 70er Jahren von den deutschen Filmtheoretikern entdeckt wurde. Nur kurz, dann versank sein Werk wieder in Vergessenheit. Jetzt, neu aufgelegt und Deutschland im Abschwung, zeigt sich Sympathie für Zerissenes: die späte Heimkehr des Exterritorialen. Die Wiederentdeckung von Kracauer, zum Versprengten, Fragmentarischen, dem Fehlen eines abgeschlossenen Werkes. (Tagesanzeiger Zürich vom 20.11.04) Ein Exterritorialer, der die Unbehaustheit des Skeptikers vorzog und sich auf eigene Faust in Straßen, Kinos und Lunaparks herumtrieb - um zu erkennen, was wirklich ist. Er war im Denken etwas sonderbar, wunderlich, wie Adorno meinte. Er dachte eigensinnig und quer zur geltenden Ansicht. Genau diese Autonomie, dieser systematische Zweifel, befähigte ihn, auf jedem Gebiet etwas Wesentliches zu sagen: „Die sichtbare Realität ist nie die Realität, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte. Trugbilder aus ideologischen konstruierten Metaphern und aus Traumbildern, die das gesellschaftliche Unbewusste hervortreibt. Diese Chiffren gelte es zu deuten.“
Ausgangslage
„Der war ja Nazi“. Gemeint ist Otto Steinert, der Begründer der Subjektiven Fotografie Anfang der 50er Jahre. So die Vermutung des Berliner Galeristen Rudolf Kicken anlässlich der Ausstellung von Werken der Subjektiven Fotografie (2003). Richtig ist, dass Otto Steinert 1936 in die NSDAP eingetreten war. Richtig auch, dass er als approbierter Arzt während des Krieges als Referent beim Heeresarzt im Generalstab des Heeres beschäftigt war. Gerüchte darüber, dass er während des Krieges der SS angehört habe, konnten weder bestätigt noch entkräftet werden (siehe Ulrike Herrmann, Otto Steinert und sein fotografisches Werk, Dissertation Ruhr-Universität Bochum, 1999; www.upress.uni-kassel.de/abstracts_fr/3-933146-58-5.html).
Uninteressant ist dabei die Frage, ob Steinerts Fotografien vor 1945 einer Nazi-Ästehtik gefolgt sind oder nicht. Die entscheidende Frage ist vielmehr, welche Auswirkung diese deutschnationale, mit den Nazis kooperierende Sozialisation und Prägung für die Entwicklung der Subjektiven Fotografie nach 1945 hatte. Und dies wird in der oben zitierten Dissertation nicht erörtert. Zu berücksichtigen ist dabei der Chefideologe der Subjektiven Fotografie, der Kunstwissenschaftler Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth. Er hatte 1939 seine Dissertation über das Kloster Chorin bei Wilhelm Pinder in Berlin verfasst. Pinder war der bekannteste Kunstwissenschaftler, der sich in vollem Umfang für die „Deutschen Kunst“ und den Nationalsozialismus eingesetzt hatte. 1946 hatte sich die geistesverwandten Steinert und Schmoll an der Uni Saarbrücken gefunden. Und wieder Rudolf Kicken: Er habe bei seiner ersten Ausstellung von Bildern der Subjektiven festgestellt, dass die Reihung einer großen Anzahl der experimentellen Sujets zum Auseinanderfallen in die Belanglosigkeit führte. Daher würde er diese Sujets mit anderen Fotografien mischen, die von Autoren kämen, die nur peripher mit der subjektiven Fotografie zu tun hätten, wie z. B. Christer Strömholm. Strömholm habe einen völlig anderen Bildungs- und Sozialisationshintergrund. Er kämpfte in Spanien, war Widerstandskämpfer gegen die Deutschen in Norwegen und kannte die europäischen Kulturen. Besonders für die rheinische Fotografie-Geschichtsschreibung ist es schwer zu verkraften, dass die deutsche Nachkriegsfotografie künstlerisch nur eine blutleere Aufbereitung der Avantgarde der 20er Jahre war. Dieser rheinischen Fotografie-Geschichtsschreibung werden wir noch weiter im Zusammenhang mit Martin Parr begegnen.
Wir beschäftigen uns mit Martin Parr
Martin Parr/Gerry Badger: The Photobook: A History, vol. 1, Berlin: Phaidon Verlag 2004, 320 S., 750 Farbabb., ISBN 0-7148-4285-0, EUR 75,00 (Volume 2 ist angekündigt). Eine Auswahl der Bilder aus dem Fotobuch „Dr. Hans Killian, Facies Dolorosa - das schmerzensreiche Antlitz, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1934“ ist im Bild-Blog von fotokritik zu sehen.
Berlin, den 21.02.05 Sehr geehrter Herr Parr, das Fotobuch von Herrn Killian haben Sie als einer Ihrer Lieblingsbücher vorgestellt - direkt im Zusammenhang z. B. mit „The Americans“ von Robert Frank. Ich finde das doch etwas irritierend. Ein Exemplar von „Facies Dolorosa“ steht in meinem Regal. West-Berlin, Mitte der 80er Jahre: Im verschlafenen Steglitz, versteckt in einer alten Arbeitersiedlung, hauste hinter matten Fensterscheiben das Fotoantiquariat „Ceciliengärten"“. Der Tipp für historische Fotobände kam von Janos Frecot, dem Leiter der Fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie. Schwerpunkt war die vom deutschen Bildungsbürgertum ausrangierte Fotokunst aus der Zeit vor 1945: Erna Lendvai-Dircksen, die Reichsautobahn (Neu-Sachlich mit völkischen Gesichtern), Dr. Wolff mit „Arbeit!“ (ein völkischer Intellektueller, der das Hohelied auf den deutschen Arbeiter sang), Leni Riefenstahl mit Olympia und eben auch das medizinische Lehrbuch „Facies Dolorosa - das schmerzensreiche Antlitz“ von Dr. Hans Killian, erschienen im renommierten Wissenschaftsverlag Thieme nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Vorne, auf der ersten Seite, eine Widmung „Dr. J. W. Hef.“ Außerdem befand sich im Band fein säuberlich ausgeschnitten eine Buchrezension aus dem Jahre 1937, die Killians Fotoband sehr wohlwollend besprach. Es war ein Ausschnitt aus dem „Stürmer“, Hetz- und Kampfblatt der SA - wohl die übelste Publikation der Nationalsozialisten, schon vor 1933. Denn Dr. Killian war nicht nur Parteigenosse, sondern auch Mitglied des Stahlhelms und seit 1933 Oberscharführer der SA. Er war ein typisches Mitglied des rechtsradikalen Bildungsbürgertums des untergegangenen Kaiserreichs, bei dem körperliche Gewalt zur selbstverständlichen Lebensäußerung gehörte. Ein fleißiger Germanistikstudent aus Tübingen hat 2004 in einem Seminar über die SS und die Germanistik im Dritten Reich in den Hochschularchiven gekramt und auch Originaltexte von Dr. Hans Killian aus den Jahren 1942 und 1943 gefunden und diese als pdf-Dateien ins Internet gestellt: p://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/5killianserum43.pdf. Zur Startseite: homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon
Dear Thomas Thank you for your letter and for throwing some light on the subject of Dr Killian. As neither Gerry Badger or myself read much German we were unable to find anything much out about him, except the fact of the Hans Killian Prize. However we were including his book on the strength of the photographs and I think we would do the same even knowing what we now know. If you look closely at the text you can see that we were slightly uneasy about them as we have already criticised the 19th century tradition of physiognomic comparison, and it does not surprise that he may have been Nazi as their medical experiments derived from this tradition. If we are revising the book, we will certainly mention this fact, but one interesting puzzle remains. Why is there still a well respected prize in his honour if his name is somewhat tarnished? Best wishes Martin Parr
Köln, 7. März 2005 Sehr geehrter Herr Leuner, jetzt bin ich etwas irritiert. Eine Bilddokumentation kann aus vielerlei erschüttern. Waren Sie angesichts der Folterbilder von Abu Ghraib, die kürzlich um die Welt gingen, etwa nicht erschüttert? Auch hier handelt es sich um Fotografien, offensichtlich von Tätern. Heißt das zugleich, dass die Täter etwa „gute Arbeit“ geleistet haben? Ich bitte Sie sehr herzlich, mir das Wort nicht im Mund zu verdrehen. Die Emotion liegt primär aufseiten des Betrachters, und die kann auch im Falle des Killianbandes viele Ursachen haben. Vermutlich wird jemand, der selbst eine bewegende Krankheitsgeschichte erleben musste, die Bilder wieder mit anderer Erschütterung anschauen als jemand mit medizinischem Wissen. Fotografien per se können weder schuldig noch unschuldig sein. Fotografien sind Fotografien. (Filme sind Filme, Bücher sind Bücher usw. Verwechseln Sie bitte Medien nicht mit Menschen.) Fotografien können aber natürlich einen Täterblick transportieren. Und genau da gilt es sorgsam zu differenzieren und hinzuschauen. Damit Sie mich nicht ein weiteres Mal missverstehen: Die Kontextualisierung des Killianbandes ist gerade nach dem von Ihnen entdeckten Fund wichtig, der Blick des Fotografen ist - wie gesagt - präzise wie distanziert zu analysieren. Meiner Einschätzung nach könnte es sehr lohnenswert sein, den Killianband gerade unter Hinzunahme der diffamierenden Bildideologie, die die Nationalsozialisten unter dem Slogan „Entartete Kunst“ in die Bevölkerung trugen, eingehend zu betrachten. Gute Literatur existiert ja zum Thema. Christoph Schaden
Christoph Schaden hatte in Photonews (Februar 2005) „The Photobook“ sehr wohlwollend besprochen und dieses ausdrücklich mit den Bildbeispielen aus Killians „Facies Dolorosa“ vorgestellt.
Originaltext von Hans Killian „Eine Wendung in der Serumtherapie“ (03.02.1943): Sie baten um Bericht über die große Senatssitzung. Zu meiner Freude kann ich Ihnen, ohne übertreiben zu müssen, sagen, dass mir ein persönlicher Erfolg beschieden war. Ich habe alle meine Forderungen durchgesetzt. Der gefährliche Phenolzusatz zu Immunseren wird fallen. Mein dahingehender Vorschlag und meine Begründung wurden akzeptiert. Die gesamte Industrie wird sich hiernach richten müssen. Ferner habe ich auch den Übergang von tierischen Seren zu menschlichen Seren durchgesetzt. Der Gedanke wurde aufgegriffen, diskutiert, und der Inspekteur des San[itäts]-Wesens hat sofort die Einleitung eines großen Versuches verfügt. Eine Spezialbesprechung zusammen mit der SS-San[itäts]-Leitung ist schon durchgeführt und näherer Arbeitsplan entworfen. Auch die Behringwerke sind eingespannt. Sicherlich wird nicht alles glatt gehen, aber wir sind hierdurch wahrscheinlich einen guten Schritt vorangekommen, und ich hoffe, eine Wendung in der Serumtherapie herbeigeführt zu haben. Mit den Versuchen im Reiche werde ich mich allerdings nicht begnügen, sondern habe schon Vorsorge getroffen, auch hier draußen im Felde entsprechende Parallelversuche laufen zu lassen. Es wird das nicht einfach sein, aber es muss gehen. Bei meinem nächsten Besuch werde ich Ihnen vielleicht schon etwas erzählen können. Allerdings benötigen wir für die Immunisierung mindestens 3-4 Monate. 1 Kilian an Klingelhöfer (REM), 3.2.43, BA ZB II 4536 A 8 Bl. 125
Aus Martin Parrs Vorwort zu „The Photobook“, Volume 1: „Die bedeutendsten Momente meiner fotografischen Inspiration entstanden später ebenfalls durch Bücher. Zum Beispiel erweiterten Nobuyoshi Arakis Shokuji (The Banquet, 1993) und Dr. H. Killians Facies Dolorosa (1934) meine Vorstellungen über die Möglichkeiten von Fotografie. Während der Erste das Potenzial von technischen und stilistischen Mitteln wie ... die Nahaufnahme vorführte, betonte der Letztere den Wert der Sprache in der Fotografie. Obwohl diese Aufnahmen lediglich durch den Wunsch eines Doktors entstanden, die Symptome seiner Patienten aufzuzeichnen, überschritten sie die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst.“ Und die Würdigung auf Seite 136: „Dr. H. (Hans) Killian, Facies Dolorosa Facies Dolorosa, von dem hervorragenden deutschen Diagnostiker Dr. Hans Killian verfasst, ist hauptsächlich ein wissenschaftliches Werk über empirische Beobachtung. Es beschäftigt sich mit dem ersten Schritt einer Diagnose: der äußeren Untersuchung eines Patienten. In diesem Sinne sollte dieses Werk ein dokumentarisches sein, aber es ist weitaus mehr. Dies liegt zum einen an der Natur von Killians Fotografien und zum anderen am Aufbau des Buches. Die Fotografien bilden im Bett liegende Patienten ab - jung, alt, männlich und weiblich. Sie wurden überwiegend von Nahem fotografiert, sodass viele Bilder Gesichter zeigen, die in weißen Krankenhauslaken liegen, mit der darunter stehenden Prognose des Patienten. Manchmal wird ein Patient mehrmals gezeigt, wie seine oder ihre Krankheit voranschreitet. Es sind überwiegend schwere Krankheitsbilder und manche Patienten sehen sediert oder resigniert aus, während andere offensichtlich an Schmerzen leiden. Das Buch steht in der Tradition des 19. Jahrhunderts, wobei sowohl physiologische als auch psychologische Schlussfolgerungen auf physiognomischer Untersuchung beruhen. Facies Dolorosa wäre heutzutage kein zuverlässiges diagnostisches Instrument, nicht nur wegen der schwarz-weiß Fotografien, sondern auch weil die Hautfarben durch den Druck verblasst sind. Dadurch wurden verräterische Veränderungen der Haut eliminiert. Wie auch immer, das Buch wurde zu seiner Zeit sehr ernst genommen und immer wieder neu aufgelegt. Killians Werk wird nach wie vor durch den Hans Killian Preis in Deutschland gewürdigt. Für den Laien liegt das Hauptcharakteristikum des Buches in seiner Eigenartigkeit, seiner Abkehr von den Normen der Praxis der klinischen Fotografie. Killian fotografierte die Gesichter nicht frontal, sondern von der Seite und häufig auf der Höhe des Patienten, aus der Perspektive eines Besuchers. Auf einer Ebene wirken die Portraits der Kranken sehr intim und mitfühlend. Auf einer anderen Ebene erscheinen sie sehr kühl und distanziert, durch die Grautöne des Druckes - ... Einen ähnlichen Eindruck vermitteln die Töne der Haut und der weißen Laken. Die Patienten sehen aus wie Marmorstatuen. Die Spannung zwischen dem Intimen und der Kälte erzeugt ein fesselndes und bemerkenswertes Buch - es verwischt die Linie zwischen Leben und Tod, zwischen Klarheit und Wahnsinn. Wie auch immer Facies Dolorosa als diagnostisches Instrument bewertet werden mag, es bleibt von verwirrender und überwältigender Schönheit. Ein Werk der fotografischen Wissenschaft hat unzweifelhaft die Grenze zur fotografischen Kunst überschritten.“
Anmerkung:Die Hymne von Martin Parr für dieses Buch mag befremdlich sein. Dr. Killian war kein liebender, einfacher Arzt, der seine sterbenden Patienten noch einmal mit ihrer Würde abgelichtet hatte. Das Parrsche Bild ist Sozial-Kitsch. Killian war ein distanzierter Wissenschaftler, ohne ethische Grenzen, aber mit künstlerischen Neigungen - er hat auch gemalt. Nicht ohne Grund griff er auf das Genre der Portraitfotografie zurück, um die „Physiognomie“ wieder als ärztliches diagnostisches Mittel zu propagieren. Besonders wenn man weiß, dass Portraitfotografie in den 20er und 30er Jahren der Weimarer Zeit extrem ideologisch aufgeladen war. Vom „Germanischen Volksgesicht“ der Erna-Lendvai-Dircksen, Helmar Lerskis Arbeitergesicht als Kunstskulptur im den „Metamorphosen“ als linke Provokation oder Sanders Kaleidoskop einer im Untergang begriffenen Gesellschaftsordnung des verspätet ausgehenden 19. Jahr- hunderts. Das Gesicht wird zum „Antlitz“ hochstilisiert. Und Portraits wurden gezielt für Bedeutung und Beweis der ideologischen Position eingesetzt. Nicht unvergessen sollte sein, dass noch 1941 die Goebbels-Propaganda mit Fotos von gefangenen Sowjetsoldaten, die aus dem asiatischen Teil stammten, die Rechtfertigung des Krieges gegen Russland mit der Bedrohung durch die Untermenschen herleitete. Diese Fotografien wurden in der deutschen Bevölkerung durchaus als treffend wahrgenommen. Die Folgen dieser ideologischen Schlacht sind immer noch zu spüren. Um Fotografen gerade aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über alle Zweifel zu erheben, wird die große Schublade „Neue Sachlichkeit“ geöffnet, und alles, was irgendwie mit weißem Hintergrund und geraden Linien gearbeitet hat, als „gereinigt“ von Spuren deutscher Vergangenheit beschrieben: Ob Blossfeldt, Renger-Patzsch, Sander u.a. - ohne „Neue Sachlichkeit“ geht's nicht mehr.
So schreibt Herbert Molderings in seiner Rezension über „The Photobook“ in Sehepunkte Nr.5, 2005 ganz gekränkt: „Von der umfänglichen deutschsprachigen Sekundärliteratur, insbesondere zu den Fotobüchern der 20er- und 30er-Jahre, einer Periode, in der Deutschland auf diesem Sektor weltweit führend war, ist - offenbar aufgrund mangelnder Sprachkenntnis - nicht ein einziger Titel aufgeführt. Daher ist es nicht verwunderlich, in den Werkkommentaren so merkwürdige Feststellungen zu lesen wie die, Karl Blossfeldt sei „a rare combination of craftsman and art historian“ gewesen und sein Buch Urformen der Kunst, „as much founded on the Arts-and-Crafts ethos as Bauhaus principles“ (sic), habe ihm als „teaching manual“ an der Kunstgewerblichen Lehranstalt in Berlin gedient. Das von dem Kunsthistoriker Franz Roh und dem Typografen Jan Tschichold herausgegebene Buch koto-Auge diente keineswegs als Katalog der Internationalen Ausstellung kilm und Foto in Stuttgart 1928 - es gab einen eigenen Katalog mit 977 Werknummern und 23 Abbildungen -, sondern war der Prototyp eines im Hinblick auf Einband, Typografie, Bild-Layout und Bindung völlig neuartig gestalteten Bilderbuchs.“ Und in diesem Ton weiter: „Es genügt, in diesem Zusammenhang den Eintrag zu Renger-Patzschs Die Welt ist schön von 1928 nachzulesen. Badger wiederholt in seinem Kommentar die Ablehnung dieses Buches durch die linksliberale Intelligenz der Weimarer Republik (Benjamin, Roh, Döblin) als ideologisch reaktionär, wobei er die antifortschrittliche Haltung mit „the book's sequencing, its gradual progression towards God“ identifiziert. Dabei nimmt er nicht nur auf gegenteilige zeitgenössische Stimmen zu Renger-Patzschs Fotografie, etwa die Stellungnahmen Kurt Tucholskys und Thomas Manns keine Rücksicht, er ignoriert auch vollkommen die von der Forschung in den vergangenen drei Jahrzehnten herausgearbeitete enge Verbindung der Fotografie Renger-Patzschs mit der auf der Devise „Fortschritt durch Technik“ basierenden Weltanschauung des 'Amerikanismus' und des 'weißen Sozialismus' sowie der Neuausrichtung der neusachlichen Fotoästhetik an den Grundsätzen der naturwissenschaftlichen Fotografie. An Stellen wie dem Kommentar zu Die Welt ist schön wird greifbar, dass die Texte in dem vorliegenden Band methodisch und inhaltlich hinter dem Stand der Forschung häufig weit zurückbleiben.“ Herbert Molderings, Rezension von Martin Parr/Gerry Badger: The Photobook: A History, vol. 1, Berlin: Phaidon Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL:
Anmerkung: Welchen Stand der Forschung meint Herr Molderings denn eigentlich? Wohl doch den Stand an seinem Institut an der Uni-Bochum. www.kgi.ruhr-uni-bochum.de/institut/staff/molderings/molderings.htm Aber nochmal zurück zu Herrn Dr. Killian. Selbstverständlich ist Martin Parr nicht von allen guten Geistern verlassen. Diese zynischen Herren des geistigen Unterbaus des 3. Reichs waren durchaus schillernd mit dem Hang zur Exzentrik. Der Dichter Ernst Jünger ist einer der bekanntesten Beispiele dafür. Oder, in der grobschlächtigen Variante, der Marinemaler, Autor und Sammler Lothar Buchheim („das Boot“). In dem Tanznacktfilm der UFA "Wege zu Kraft und Schönheit" aus dem Jahre 1925 trat in tragender (nackt) Rolle neben Leni Riefenstahl, Greta Palluca und Mary Wigman eine Niddy Impekoven auf. Bürgerlicher Name: Luise Impehoven. Sie war in der Weimarer Zeit eine bekannte Grotesktänzerin (der Tanz der Unschuldigen) und bis 1929 die Ehefrau von Herrn Dr. Killian.
3. Muss Berlin weinen?
Ja, über das Museum für Fotografie
Auf dem Art Forum 2002 wurde die übliche Runde „die Fotografie in Berlin" zelebriert. „Dabei werden immer auswärtige Gäste als Feigen blatt geladen“ (Thomas Weski). Bei der damaligen Podiumsdiskussion erfüllten Urs Stahel (Fotomuseum Winterthur) und Jörg Bader (Genf) diese Funktion.
Urs Stahel: „Die Fotografie in der Bildenden Kunst interessiert mich nicht. Sie stellt nur einen kleinen Bruchteil der Fotografie dar. Was ich viel spannender finde, sind die vielen Fotografien, die in anderen kulturellen Kontexten entstanden sind. Das ist die Fotografie, die mich seit den 80er Jahren umtreibt und der Motor ist, um immer wieder um das Museum zu kämpfen: Die Sammlung von Fotografien unheilbar Kranker des Arztes Dr. Ikkaku Ochi (1890), „Im Rausch der Dinge“, eine Zusammenstellung von Fotografien jeglicher Provenienz über Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs.“
Anmerkung: Das tönt engagiert. Ist das aber nicht der „Foto-Szene -Tunnelblick“? Ein Direktor eines Literaturinstituts sagt, ihn interessiere die große Literatur nicht. Sie mache ja nur einen Bruchteil des Geschriebenen aus. Vielmehr interessiere er sich für die sprachlichen Äußerungen von Ärzten, Anwälten, für Begleitzettel von Apparaturen, Trivialliteratur u.a. – große Namen könnten natürlich auch dabei sein.
Peter Galassi, Chefkurator für Fotografie am Museum of Modern Art, New York: „Heute besteht die Fotografie aus zwei Welten, die Welt der traditionellen Fotografie und die Welt der Fotografie innerhalb der Gegenwartskunst. Obwohl sie sich ein bisschen überschneiden, sind es immer noch zwei verschiedene Welten. Das war für mich seit dem Beginn 1974 die große Herausforderung. Alle Kuratoren meiner Generation müssen sich auf beide Welten einlassen, die eine in die andere einführen und beide miteinander bekannt machen. Das ist im Grunde mein Job.“ (im Gespräch mit Thomas Honickel in Photonews 2/06)
Thomas Weski: „Nun geht es mir nicht so wie Urs Stahel, denn mich interessiert primär „Fotografie in der Bildenden Kunst“ (ich würde das gerne etwas weiter fassen: künstlerische Fotografie), aber ich arbeite auch an keinem Fotografiemuseum. Ich finde z.B. werbliche und journalistische Fotografie, Mode-, Akt- und Prominentenfotografie per se erstmal ziemlich uninteressant. Natürlich sehe ich diese Fotografien wie jeder andere auch täglich, ich bin ihnen ausgesetzt, sie berühren mich auch zum Teil, aber sie sind nicht direkt Teil meiner beruflichen Beschäftigung mit der Fotografie. Das wird anders, wenn diese Bildwelten Teil eines künstlerischen Vorgehens werden, also eine Transformation des Materials (manchmal nur in der Art des Zugriffs) stattgefunden hat. Private Fotografien, Erinnerungsbilder können mich ohne den beschriebenen Zugriff interessieren. Sie haben ein enormes Potenzial als Teil kollektiver Kenntnis und bedeuten für mich so etwas wie eine fotografische Ursprache. Ich schätze an ihnen auch, dass sie oft den Zufall zulassen. Auch etwas sehr Fotografisches. Natürlich sind sie keine Kunst, aber sie sind faszinierend und ich verstehe, dass die Sammlung von ungewöhnlichen Schnappschüssen, die Thomas Walther angelegt hat, nun als geschlossenes Konvolut ihren Platz in der Fotografieabteilung des MoMA gefunden hat. Der Monolog von Fotografiemuseen erschöpft sich naturgegeben irgendwann, denn die vielen Ausstellungen wollen ja auch bestückt werden, also öffnet man sich auch den Nebenaspekten oder anderen Arten der Fotografie. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Programm mit rein künstlerischer Fotografie auf Dauer unter den gegebenen Prämissen (einerseits die natürliche Begrenzung des zur Verfügung stehenden Materials bei der vorgegebenen Anzahl von jährlichen Ausstellungen, andererseits der Zwang der ökonomischen Bedingungen, die Besucherzahlen etc.) gar nicht durchzuhalten ist. Vielleicht entsteht daher diese Begeisterung für alle Formen der Fotografie, die ich in diesem engen Rahmen im Sinne einer Medienerforschung verstehen kann und die scheinbar jede Generation wieder für sich entdeckt. Mich erinnert sie allerdings zu sehr an die Situation vor nunmehr drei Jahrzehnten, in der Sammler jede fotografische Höchstleistung als museal erachtet haben. Daher ja auch diese eigenartig heterogenen Sammlungen dieser Epoche, die natürlich auch aus Begeisterung für die Möglichkeiten der Fotografie entstanden. Diese Sammlungen - und hier würde ich bei ihren Urhebern von einer naiven, aber auch leidenschaftlichen und aus der Zeit heraus erklärbaren Liebhaberei sprechen -, die angewandte und freie Formen der Fotografie vermischen, haben dann fatalerweise zu einer Auffassung in der Öffentlichkeit und in den Medien beigetragen, die sich heute darin äußert, dass man meint, mit dem Tod von Richard Avedon sei nun nach Henri Cartier-Bresson und Helmut Newton das letzte fotografische Original des 20. Jahrhunderts gestorben (FAZ, 3.10.2004). Dazu fällt mir dann nichts mehr ein ... Und da Sie gerade Berlin angesprochen haben: Warum gibt es denn in dieser Stadt keine Integration der Fotografie in die Bildende Kunst auf hohem Niveau? Wird nicht vielmehr hier die Weiterentwicklung der Fotografie von naiven Liebhabern der Fotografie unterdrückt?“
Ja, was macht man so in Berlin?
Hier ist der Monat der Fotografie zu Ende gegangen. Am Dienstag war in der Berlinischen Galerie eine Abschlussveranstaltung: Luc Monterosso, Ludger Derenthal, Ulrich Domröse, Thomas Friedrich (Museumspädagogischer Dienst) und der Koordinator aus Wien. Sehr Berlin: Die Veranstaltung war im Programmheft als eine Veranstaltung ausgeschrieben, für die man sich anmelden musste Folge: Der große Konferenzsaal war nur zu einem Drittel gefüllt. Viele, die ich kannte, hatten erst in letzter Minute per E-Mail davon erfahren. Thomas Friedrich begründete diese Vorsorge mit der Angst, es könnten ja zu viele Leute kommen - beim Thema Fotografie in Berlin ein leichter Größenwahn. Das Publikum kommt zahlreich nur bei Gesprächen mit bekannten Fotografen. Die Veranstaltung begann zuerst einmal mit dick aufgetragenem Selbstlob: Domröse: (nach 10 Jahren wieder aus den Ruinen auferstanden) man sei ja das einzige Museum in Deutschland, in dem Fotografie gleich berechtigt neben Malerei hängen würde - hört! hört! Friedrich: Der Monat der Fotografie sei bei dieser kurzen Anlaufzeit ein großer Erfolg. Die Willi-Römer-Ausstellung (im DHM) sei ein großer Publikumsmagnet. Anmerkung einer Wienerin aus dem Publikum: „Die Berliner schauen sich selber an, in Valencia wäre das wohl deutlich anders!“ Konkrete Kritik wurde nicht geübt, kam auch nicht aus dem Publikum. Luc Monterosso aus Paris, der Vater des Monats der Fotografie, dem sein Engagement und Spaß an der Sache anzumerken waren, gab sich außerordentlich erstaunt. In Paris und Frankreich werde er immer heftig kritisiert. Offensichtlich sei das eine Besonderheit der französischen Kultur - oder das Fehlen einer Kritik eine Besonderheit der deutschen Konsenskultur. Natürlich meldeten sich die „Bedenkenträger" zu Wort: Warum so geballt, warum so bunt, das kann sich ja keiner mehr alles ansehen. Und der erhobene Zeigefinger, “nicht nur die elitäre Fotografie fördern!“ Eine Jury, die die Galerien auswählt? Wer kann sich so was anmaßen, dies zu beurteilen. Was müssen das für „Weise" sein? (Thomas Friedrich). Aus dem Publikum kam dann: „Bei jeder Biennale ist das so, wo ist das Problem?" Und das alles im Konferenzsaal, in dem Fotografien der Hannah-Höch-Preisträgerin Helga Paris hängen - die alten DDR-Fotografien sind gut, die neuen Bilder platt kommerzig. Im nächsten Raum wartet die „Biss“- Ausstellung aus München (Pinakothek der Moderne) auf Besucher. Kein Begleitprogramm - was sich bei dem Thema in Berlin gut anbieten würde. Es gibt nicht nur wie in München den „Biss“, sondern gleich drei solcher Obdachlosenzeitungen. Übrigens, dort in der Berlinischen Galerie wird im Jahre 2006 die Pirelli-Kalender-Ausstellung gezeigt werden. Peinlich!
Wohin treibt die Fotografie in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz?
Wie es scheint, an die Wand! Dr. Ludger Derenthal legt endlich klar, wohin das Museum für Fotografie treiben soll: in die tiefe deutsche Provinz. Mochte man noch in der Ausstellung von Rainer Kummer einen nicht erwarteten Auftakt sehen, so ist mit „Philipp Schönborn - Heiliges Land“ ein Tiefschlag gelungen und das sogenannte „Museum für Fotografie" für die nächste Zukunft ins Nirgendwo abgestürzt.
9. März 2005, 19 Uhr: Würdigung des Künstlers durch den Landesbischof Huber, Katalog mit Vorwort von Ludger Derenthal. Was war zu sehen? Ein Bilddisplay - abstrakte Farbkringel mit dem Titel „Blumen aus dem Heiligen Land“. Oder „Abraham“: Der Künstler hat sich mit der Kamera ins Tote Meer gelegt und in alle Himmelsrichtungen den blauen Himmel abfotografiert - im Zentrum nichts, weil da Gott sitzt. Daraus wurde eine Kreuz-Installation, Fotos in Alukästen. Oder nur „göttliches Licht!“ – Weiß in Alukästen. Das ist noch nicht einmal Kitsch.
Anmerkung: Eingangsbereich Newton-Museum/Fotomuseum, Jebensstrasse 2. Die Dame an der Kasse bemerkt, dass ich ein besonderes Interesse an den Ausstellungen hatte. Sie gab mir die kompletten Flyer des Newton-Museums. Dann zog sie hinter sich noch einen Flyer aus dem Ständer: „Ganz oben ist auch noch eine Sonderausstellung.“ In der Hand hielt ich den offiziellen Flyer des „Fotomuseums Berlin“, Hausherr der Jebensstrasse 2.
Thomas Weski: „In Berlin vermisse ich jedes ernsthafte Engagement, da wird auf der denkbar kleinsten Flamme gekocht. Das Museum der Fotografie ist ja noch sehr in den Anfängen, um es einmal nett zu sagen. Das ist doch paradox, dass der Preußische Kulturbesitz ein Museum für Fotografie in Räumen betreibt, die noch nicht einmal klimatisiert sind, eigentlich noch eine Baustelle. Wenn ich aber von der Kunstbibliothek ein Bild leihe, müsste ich mehrseitige „facility reports“ auffüllen in Kenntnis, dass der Träger sich selbst in seinem Fotomuseum nicht daran hält. Was für ein herrlicher Schwachsinn!"
Einer der Berliner Museumsdirektoren, der natürlich nicht genannt werden will: „Was wir bei Herrn Derenthal vermissen, ist die Tatsache, dass er kein Fremdgeld akquirieren kann!“ Wobei sein Chef, der Direktor der Kunstbibliothek, Prof. Dr. Bernd Evers, nicht in Erscheinung tritt. Wie soll aber jemand wie Herr Derenthal, der frisch als wissenschaftlicher Assistent von der Uni Bochum kommt, solch ein Projekt zum Erfolg führen können?
Soll Berlin weinen? Nein, Lumas kommt!
Es gab in Berlin schon immer das ostelbische Staatswesen, das mit dem Kopf im letzten Jahrhundert vor sich hindöste (aber ab und an mal reaktionär um sich schlug). Erfolg hatte Berlin nur wegen des "Tingeltangels", des Lauten, Leichten, Unseriösen, nach vorne Drängenden, Anreisende Verschlingenden. Hier und heute: Fotografie als Volkskunst. Dafür ist Lumas ein Beispiel: Schon seit einigen Monaten sorgen die Nachricht von der Fotokunstedition Lumas für Unruhe. Mit Geldern aus der Internetbranche und Unterstützung der Fotokuratoren Enno Kaufhold und Klaus Honnef sollte Fotokunst zu Dumping-Preisen dank digitalem Druck in hoher Qualität und Auflage unter das fotointeressierte Volk gebracht werden. Für die Fotografen ein Pakt mit dem Teufel? Das Ende für hochpreisige Fotokunst, wie sie in den Galerien f 5,6 in München oder Camera Work in Berlin vertrieben wird? Pünktlich zum Beginn des Weihnachtsgeschäfts im November hat sich der Vorhang gelüftet: Das Lumas-Magazin in einer Auflage von 500.000 Exemplaren ist über die einschlägigen Zeitschriften wie Art, Brandeis, Geo und Elle Decorativ in die öffentliche Aufmerksamkeit gedrückt worden. Und: Tatsächlich ist das Konzept „Fotokunst zu kleinen Preisen“ auch umgesetzt worden. Zwischen 90 und 300 € liegen im Schnitt die Preise für einen digitalen Lambdaprint auf Fujipapier bei einer signierten Auflage von 100 Exemplaren. Neben vielen unbekannten Fotografen aus der Fotokunstszene wird auch mit renommierten Namen geklotzt: der Becher-Schüler Boris Becker, der Modefotograf und Selbstinszenierer Jürgen Teller, natürlich die Bechers selbst, Candida Höfer und Verkaufsrenner auf den Fotokunstmessen wie Stefanie Schneider. Auch die alten Kempen der glücklosen abstrakten Fotografie wie Floris M. Neusüss und Karl Martin Holzhäuser wagten den Sprung aufs Parkett. Für die Lumas Editionsgalerie musste die beste Neu-Berliner Lage her, Oranienburger Straße 1, direkt am Hackeschen Markt. Dort im frisch ausgebauten Hinterhof werden in drei Räumen die Editionsexemplare gerahmt oder kaschiert zum Mitnehmen präsentiert. Die Digital-Prints sind qualitativ hochwertig und häufig besser als die von den Fotografen selbst editierten Prints. Auf den Tischen in den Räumen sind klassische Fotobücher zum Verkauf ausgebreitet, die zum Sortiment der angebotenen Foto-Edition passen sollen. Der erste Eindruck bestätigt den amerikanischen Trend, dass die ungebrochene Popularität des Mediums Fotografie Kapitalgeber anzieht, die im großen Maßstab und mit gezielter PR Geld investieren. Sicherlich ein Gewinn für die Fotografie als Sammlermedium, mit neuen Käuferschichten. Einige Dinge irritieren jedoch: Bei genauer Überprüfung der Fotografenliste stellt man fest, dass die renommierten Namen wie Teller, Becher und Höfer in Editionen von anderen Galerien auf anderem Trägermaterial vorliegen, meist nur mit ein oder zwei Motiven. Hier wurde gezielt dazu erworben, um die Fotografenliste zu pushen. Die Verträge mit den anderen Fotografen sehen die Vergabe der Bildrechte an den Motiven für eine begrenzte Zeit vor (meist 5 Jahre), in der Lumas Editionen in allen Formaten selbst mit Bildausschnitten herstellen kann. Nur die renommierten Fotografen können größere Formate über andere Galerien vertreiben. Nach der Edition werden die Motive für die meisten Fotografen verbrannt sein, bei einer Verkaufsbeteiligung von bis zu 20% dürfte sich wegen der niedrigen Preise kein merklicher Gewinn einstellen. Die im Katalog etwas vollmundig diskutierte Wertsteigerung der Editionen trägt zu diesem etwas schalen Beigeschmack bei.
Anmerkung: Wie immer gibt es einige Gewinner und mehr Verlierer - besonders die zeitgenössische Schwarz/weiß-Fotografie wird zu den Gebeutelten gehören. Schwarz/weiß als Digi-Print auf Farbpapier hat keinen Sammlerwert.
Berlin/Zürich 2004/5 (überarbeitet 2006)