Der dritte Band von Gerry Badgers und Martin Parrs Buch über Fotobücher ist da. Endlich, werden die einen sagen, weil sie eine Belebung des Marktes und neue Perspektiven herbeisehnen. Überflüssig, meinen die anderen, weil schon alles zum Thema gesagt worden sei oder weil ihnen Konzept und getroffene Auswahl grundsätzlich nicht passen.
Um gleich ein Missverständnis auszuräumen: es handelt sich bei diesem nun dreibändigen Werk nicht um die Fotobuchbibel. Auch wenn sich der internationale Einfluss der in vergleichsweise riesiger Auflage erschienenen Bände I (2004) und II (2006) als immens erwiesen hat. Der Kanon nennenswerter Bücher wird von Parr/Badger wesentlich mitbestimmt, aber nicht definiert, es sei denn, man kennt nichts anderes. Die Subjektivität der Auswahl hat dabei seit dem ersten Band zugenommen. Anders hätte man der laufend wachsenden Menge an Fotobüchern auch nicht mehr Herr werden können. In seinem Vorwort stellt Martin Parr fest, dass sich seit dem zweiten Band doch Einiges getan habe. Spezialuntersuchungen zu Fotobüchern aus den Niederlanden, aus der Schweiz, aus Südamerika, aus und über Deutschland, über Paris usw. erschienen, Festivals wie in „Kassell“ (sic!, S.4) wurden gegründet. Keine Frage, von „The Photobook“ gingen wichtige Impulse für die weltweit agierende Szene aus – so wie diese jetzt auch den dritten Band beeinflusst haben mag.
Die Popularisierung des Fotobuchs ist unbestreitbar ein Verdienst von Parr und Badger. Inspirierend und fördernd ist beider Werk nicht nur für den ganz allgemein gewachsenen Stand des Wissens um das zuvor eher unbekannte „Medium“ Fotobuch einschließlich einer Abgrenzung zu Bildbänden, Katalogen und Künstlerbüchern, sondern auch für die Initiierung von neuen Buchprojekten und Publikationsformen. Die digitalen Drucktechniken kamen genau zum richtigen Zeitpunkt, um das Interesse an Fotobüchern als Ausdrucksform aufblühen zu lassen. Anfangs haben noch die traditionellen Verlage vom Boom profitiert, inzwischen sind ganz andere Produktions- und Distributionsformen möglich und der Absatz von Großauflagen im Buchhandel wird immer schwieriger. Das Internet erlaubt Preistransparenz, aber auch Eigenvertrieb.
Etliche Boten dieses Wandels finden sich jetzt auch in Parr und Badgers neuem Band, siehe die Eigenproduktionen von Christina de Middel (S.302) oder von David Galjaard (S.210), Frederic Lezmi (S.227), Rob Hornstra (S.230), Jacob Aue Sobol (S.235), Tiane Doan na Champassak (S.293 und 297) oder gar von Giorgio Di Noto (S.211), der es mit einem Buch in einer Auflage von 20 Exemplaren in die Auswahl geschafft hat. Er war damit zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, um bei den Autoren Interesse zu wecken. Parr hatte offenbar Glück bei einer Fotobuchverlosung während des Kasseler Festivals 2011, als 50 gesponserte Exemplare von Joachim Schmids „L.A. Women“ zu gewinnen waren. Auch diese Raritäten-Ausgabe des ansonsten im „Schmid Shop“ bis heute unlimitiert printed-on-demand erhältlichen Werks ist enthalten (S.250). Ob nun solche Klein- und Kleinstauflagen, die kaum ein Leser jemals sehen wird, die aber Parr in seiner Bibliothek hat, die Fotobuchgeschichte wesentlich voran bringen werden, bleibt unter Berücksichtigung des Gesamtwerks der Fotografen, der Fotografinnen genauso abzuwarten wie die Antwort auf die Frage, ob ihnen die ehrenvolle Erwähnung bei ihren Karrieren weiterhelfen wird.
Wer außer den rastlos herumreisenden und suchenden Enthusiasten Parr und Badger sollte bei den vielen Neuerscheinungen, bei den vielen „Geheimtipps“ noch die Übersicht behalten? Der Parr-Badger-Filter ist eine wirklich gute Hilfe, um im mitreißenden Bücherstrom nicht unterzugehen. Der Filter liefert Vergleichsbeispiele, fördert Erstaunliches und reichlich Unbekanntes zu Tage und setzt Akzente. Badger vergleicht diese Arbeit mit der eines Archäologen. Es ist klar, dass „nur“ eine von vielen Faktoren abhängige Auswahl präsentiert wird. Diese ist, wie schon bei den Bänden I und II, diskussionswürdig, weil nie vollständig oder alle Erwartungen zufriedenstellend. Die Fotografen und Verlage, deren Bücher nicht „drin“ sind, mögen enttäuscht sein. Vielleicht machen Parr und Badger ja weiter und legen alle fünf bis zehn Jahre eine neue Bilanz vor; laut Verlagswerbung soll ja Band III einen Abschluss liefern, was völlig unrealistisch ist. Denn es wird deutlich, dass sich weitere Fotobuch-Spezialuntersuchungen zu Ländern (China, Tschechoslowakei, Türkei, DDR…) oder Themen (Protest, Vietnamkrieg) lohnten.
Die Auswahl bestimmter Bücher überrascht nicht. Es war zu erwarten, dass die „Kannibalen“ (S.192) oder „é il ´77“ (S.64) dabei sein würden, denn die Autoren haben (mit ironischen Seitenhieben auf den Fotobuchmarkt) mehrfach öffentlich davon gesprochen. Auch alle fünf Bücher aus Parrs Reprint-Set „Protest Box“ (Göttingen 2011) sind jetzt in einem der drei Bände zu finden, fast alle aus Parrs Zwischenbilanz („Martin Parr´s best books of the decade – A personal selection“, Dublin 2011), einige aus Parr und Badgers Ausstellung über „Protestbooks“ während der Paris Photo 2013 (www.parisphoto.com/paris/program/2013/open-book) und ein paar aus dem Kasseler Photobook Award (2012.fotobookfestival.org/en/photobook_award/) und aus anderen Rankings. Auch die zwischenzeitlich erschienenen Fotobuch-Bücher zu den Themen Niederlande, Deutschland und Südamerika wirkten befruchtend auf die Arbeit an Band III. Der Reigen beginnt mit einer portugiesischen Propagandabroschüre von 1934 und endet mit Doug Rickard, der Amerika mit Bildern von Google Earth portraitiert. Welch eine Spanne fotografischer Möglichkeiten zwischen mitreißenden Fotomontagen und automatisiertem Ausspähen!
Wie sieht es nun mit Konzept und Inhalt aus? Der Schwerpunkt liegt bei neueren Titeln aus den letzten zwei, drei Jahrzehnten. Wie in den beiden ersten Bänden wurden thematische Klammern gefunden, die die Bücher zu übersichtlichen, aber nicht chronologischen Kapiteln ordnen (in der Reihenfolge ihres Auftretens: Propaganda, Protest, Leidenschaft, Gesellschaft/Modernes Leben, Orte, Konflikte, Identitäten, Erinnerung, Fotobücher über Fotografie als solche). So kommt erstmals das „Protestbuch“ vor. Erneut wird der Fokus auf die Themen Propaganda (Bd.I), Modernes Leben und Konflikte (Bd.II) gelegt. Wie zuvor gibt es jeweils einen einführenden Essay, der die im Folgenden im Detail gezeigten, aber auch weitere Bücher im Zusammenhang vorstellt. Wobei die eine oder andere Einordnung in eine der Themenschubladen zu Irritationen führt.
Ausnahmsweise sei hier eine kleine Abschweifung zu einer Buchvorstellung gestattet, die eines meiner Lieblings-Fotobücher betrifft. Immerhin – das Buch ist mit dabei, was ich gut finde (S.28), denn „Mariánské Lázně“ ist eines der schönsten und unterhaltsamsten Beispiele eines von der Avantgarde gespeisten sozialistischen Realismus. Der 1960/61 von einem Regionalverlag in Pilsen verlegte Bildband über den Kurort Marienbad, ist, wie Badger zunächst richtig feststellt, ein Fotobuch, bei dem die Summe besser ist als seine Teile. Das ist vor allem Pravoslav Sováks mit Farbflächen, einer „sprechenden“ Typografie und einer geschickten Sequenzierung arbeitenden Layout zu verdanken. Der Gestalter wird als Mitautor genannt, was nicht selbstverständlich ist. Die Quellen für solch ein (seinerzeit nicht so seltenes, aber selten so elegant realisiertes) Design liegen in der avantgardistischen Kunst der 20er-Jahre, was einer näheren Untersuchung wert wäre. Leider führt Badger nicht genauer aus, warum er Alain Resnais Avantgardefilm „Last Year in Marienbad“ (1961) ins Spiel bringt – sollte das im Auftrag der Stadt herausgegebene Buch etwa in irgendeinem Zusammenhang mit dem (nicht in Marienbad gedrehten) Film stehen? Resnais ist übrigens auch mit einem Fotobuch in Band III vertreten („Repérages“, S.249). Selbst wenn man zunächst nicht weiß, wer der bei „Mariánské Lázně“ als mitwirkend genannte Pavel Kohout ist, hätte man sich wenigstens das Impressum im Internet übersetzten lassen können und wäre dann darauf gekommen, dass er die „Verse“ beigesteuert hat und keinesfalls die Fotos. Die Texte erscheinen tatsächlich in Gedichtform. Einer von Kohouts „Versen“ wurde sogar von Karel Macourek im Stile eines Chansons vertont und ist in einer Aufnahme mit dem Sänger Rudolf Pellar und dem Orchester Karel Vlach auf einer Flexidisc zu hören, die dem Buch beilag und die mit einem farbigen Motiv daraus bedruckt ist. Ob der „andere“ Fotograf, Erich Einhorn, ein „not inspired“ Werbefotograf war, wie Badger schreibt? Jedenfalls war er ein renommierter Lehrbuchautor und hatte noch zwei weitere bemerkenswerte Städteportraits vorgelegt („Prager Alltag“, 1958 in deutsch bzw. 1959 für die tschechische Ausgabe; „Im Flug nach Moskau“ bzw. „do Moskvy“, 1959). Ein Blick in diese Bände hätte geholfen, „Mariánské Lázně“ auch hinsichtlich der fotografischen Qualität besser einschätzen zu können. Ob das schwungvoll und mit leicht ironischer Note erzählte Souvenirobjekt für Kurgäste im Kapitel „Propaganda“ gut aufgehoben ist, obwohl Badger im Text selbst Bedenken äußert? Nein, es hätte in das Kapitel über Orte und Plätze gehört. Propaganda ist eine spezielle Art von Werbung – für Politik und deren Auswirkungen, aber nicht für konkrete Produkte oder für Badekuren und Tourismus. Oder anders: Es kommt auf den Einzelfall an, auf Konzept, Form und Inhalt; es gibt auch Propagandabücher über die Freizeitgestaltung der Werktätigen im Sozialismus und über die dazu dienenden Ferienheime. Solche Aspekte stehen aber bei „Mariánské Lázně“ nicht im Vordergrund, sondern die auf einer reichen Tradition basierende Atmosphäre des Kurortes. So steht nun Marienbad bei Parr/Badger auf einer Doppelseite neben Peking, wo zwei Publikationen die Fortschritte chinesischer Baukunst unter Mao feiern. Ungeachtet der hier naheliegenden Frage, wo Werbung aufhört und wo Propaganda beginnt und wie man überhaupt solche eng verwandten Begriffe zu definieren hat, ist zumindest eines sicher: Das Meisterwerk tschechoslowakischer Fotobuchkunst ist trotz seiner hohen Auflage von 11000 Exemplaren heute ziemlich selten.
Doch wieder zurück zu Band III. Zwei Skurrilitäten leisten sich Parr/Badger mit der Aufnahme eines mit anthropomorph interpretierbaren Wurst-Stilleben ausgestatteten Lebensmittelkataloges aus der Tschechoslowakei (ebenfalls unter „Propaganda“!, S.35) und mit einem Bildband über typisch amerikanische Lebensmittel („Momenti Mori“, S.272). Schließlich fehlt auch „Lebensmittel“ von Michael Schmidt nicht („Modern Life“, S.139), dies immerhin im Gegensatz zu den beiden letztgenannten seltsamen Titeln tatsächlich ein Fotobuch. In meinen „Kanon“ würden alle drei Lebensmittel-Bücher nicht gehören – doch darüber ließe sich trefflich streiten.
Es war nicht meine Absicht, den dicken Band III weiter nach Mängeln zu durchforsten und diese hier zu präsentieren. Es mag Fehler geben, die man durch ein besseres Lektorat und ein wenig mehr Recherche hätte vermeiden können. Eine völlige Fehlerfreiheit bei einem Werk dieses Umfangs und dieser Bandbreite dürfte kaum möglich sein. Nicht weiter tragisch, solange sich Pannen wie im Falle Kohout nicht häufen… Das zurückhaltend sachliche Layout mit dem winzigen Schriftgrad (vor allem für die bibliografischen Angaben) und den fotografierten, nicht gescannten, Buch-Bildern, die über dem weißen Fond zu schweben scheinen, wurde aus den ersten beiden Bänden übernommen bzw. perfektioniert.
Ob das Buch nochmals einen gezielten Kaufrausch bei den darbenden Antiquaren und im Buchhandel auslösen wird? Gut möglich. Etwa ein gutes Drittel der dargebotenen Bücher ist problemlos und günstig erreichbar, was erfahrungsgemäß so bleiben wird. Ein Drittel fällt in die Kategorie „selten“, war schon immer teuer und wird jetzt vielleicht noch etwas teurer. Das relativiert sich aber beim Blick auf den Kunstmarkt, bekommt man doch mit einem Fotobuch ein ganzes Werk als eine Art Multiple zu einem Preis, der meist unter dem für einen einzigen Originalabzug liegt. Den Rest der genannten Bücher gibt es derzeit schlichtweg nirgendwo und zu keinem Preis, was für Sammler Ansporn und Frustauslöser zugleich ist und sonstige Interessenten auf Reprints oder Bibliotheksbestände verweist.
Ein Kunstbuchversender wirbt in seinem neuesten Prospekt folgendermaßen für die Neuerscheinung: „Endlich! Band 3 in Kürze lieferbar… Kaum waren ihre ersten beiden Bände veröffentlicht, kam es zu einem Run auf die darin präsentierten Fotobücher – die Preise stiegen ins Uferlose. Erneut fördern Parr und Badger nun bis dahin unbeachtete Preziosen zu Tage: Sie bürsten den traditionellen Kanon gegen den Strich und haben ihre ganz eigene, kenntnisreiche Sicht auf die Dinge… Parr und Badger schreiben die definitiven Standardwerke zur Geschichte des Fotobuchs, für Sammler und Fotobuch-Enthusiasten sind sie unverzichtbar!“ Unverzichtbar sind die Bücher wegen ihres nicht zu leugnenden Einflusses in der Tat, doch ein „definitives Standardwerk“ müsste anders beschaffen sein, nämlich weniger abhängig sein von der subjektiven Sicht und den beschränkten Möglichkeiten eines selbst sammelnden Autors, so gut dieser auch vernetzt und ausgestattet sein mag. Die Frage, ob ein „definitives Standardwerk“ sinnvoll ist und wie so etwas aussehen könnte, darf gern noch einige Zeit unbeantwortet bleiben.