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Blog zur zeitgenössischen Fotografie
und digitalen Bildkunst
 

  Nachdenken über Fotografie - Gespräch mit Hans Durrer über “inszenierte Wahrheiten“: der zeitgenössische Fotojournalismus zwischen Propaganda und Fotokunst.
von Thomas Leuner

Der Schweizer Publizist Hans Durrer ist eine der wenigen deutschsprachigen Stimmen, die sich kritisch mit dem zeitgenössischen Fotojournalismus auseinandersetzen. „Inszenierte Wahrheiten“ ist der Titel seiner im Jahre 2011 erschienen Essaysammlung über den Gebrauch des Fotobildes in der Presse.


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Beginnen wir ganz aktuell mit dem Siegerfoto des World-Press Foto-Wettbewerbes 2013: wieder Palästina, wieder getötete Kinder und eine aufgebrachte Männergruppe, die beschwörend die Kinderleichen in die Kamera streckt.
Zwei Punkte fallen auf: Die wichtigsten und grausamsten Konflikte der arabischen Welt spielen sich nicht mehr in Palästina ab – vielmehr ist das der Bürgerkrieg in Syrien, die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ägypten, Libyen, Tunesien und Irak, um nur die bekanntesten zu nennen. Der Israel/Palästina Konflikt hat längst seinen Stellenwert als der am einfachsten auszuschlachtende Propagandakrieg im Nahen Osten verloren.
Von der Ästhetik her ist das Siegerfoto so aufgenommen und bearbeitet, dass eine stilisierte Situation entsteht. Das theatrale Licht einer schmalen Gasse, die durchgehende Schärfe des Bildes, die vergrößerten Köpfe in „Motion“: das Bild könnte auch ein Screenshot aus einem Computer-Game sein, also ein gerendertes und digital hergestelltes Bild. Sicherlich eine große „Inszenierung“, aber wofür und warum?


Hans Durrer
Das könnte in der Tat ein gerendertes und digital hergestelltes Bild sein; wir müssen also dem Fotografen trauen, dass es das nicht ist. Die Frage stellt sich jedoch auch so: kann ich den Menschen trauen, die Trauer inszenieren? Inszeniert wird dieses Bild ja in erster Linie von den Akteuren vor der Kamera, zweifellos zu Propagandazwecken. Das ist legitim, doch der Fotograf wird dabei auch zum Propagandisten. Es ist eine heikle Gratwanderung: soll er offensichtliche Inszenierungen für die Kamera dokumentieren oder soll er sich der Instrumentalisierung verweigern?
Andererseits: was soll er denn abbilden, wenn nicht das, was sich seiner Kamera präsentiert? Was Gegensteuer geben kann: soviel nachprüfbare Informationen wie möglich dem Bild mitgeben. Vor allem über die Umstände, in denen das Bild entstanden ist. Der Fotograf, der Bilder macht von Menschen, die für die Kamera posieren, soll dies in der Bildlegende so kennzeichnen. Er soll berichten, in Bildern und Worten, was sich ihm präsentiert hat; er soll unterscheiden zwischen dem, was er gehört hat, und was er wirklich weiss.
Die Textinformation zum World-Press Foto 2013 sagt uns, die Mutter der Kinder liege schwerverletzt im Spital (Their mother was put in intensive care): ist das Hörensagen oder ist das nachgeprüft? Nur, wie soll das praktisch gehen, ein Pressefotograf hat doch meist keine Zeit für solches Nachprüfen? Indem man festhält, es sei einem gesagt worden, die Mutter liege auf der Notfallstation. Klar, fast alles im Journalismus beruht auf Hörensagen, doch das gehört kenntlich gemacht.


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Bleiben wir noch beim Aktuellen und dem Bild selbst. Man könnte dir entgegenhalten, deine Vorstellungen von Fotojournalismus seien nicht mehr kompatibel mit den zeitgemäßen Anforderungen an Pressebilder, die die Öffentlichkeit bewegen sollen. Denn es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden.
Der ursprüngliche naive fotojournalistische Ansatz hat vielleicht so gelautet: Hier ist ein Bild und darauf ist ein Lebenssachverhalt dargestellt. Ich verbürge mich als Autor für den Wahrheitsgehalt.
Der heutige journalistische Ansatz ist vielmehr durch die Werbung geprägt, er zeigt sich besonders in der Bildkultur der Stockfotografie, also in den Angeboten der Bildagenturen, die die Medien mit der Massenware Foto versorgen. Es werden keine Dokumente produziert, sondern es wird eine Abstraktion der Bildsprache kultiviert, die einzig darauf abzielt, Emotionen zu erzeugen. Frei nach dem Motto des Theoretikers Vilem Flüsser: „Bilder sind schnelle Schüsse ins Gehirn.“ Als goldene Regel für angehende Fotojournalisten gilt: fokussieren, abstrahieren, reduzieren, emotionalisieren, appellieren.
In diesem Bewusstsein wurde auch das Siegerfoto des Word-Press Photo-Wettbewerbes aus dem Jahre 2013 gemacht. Es ist kein Dokument, es zielt ausschließlich auf die Gefühle und ist offen für jede Textstory. Wegen des Palästina-Hintergrunds ist es auch längerfristig vermarktbar.
Sind moralische Ansprüche an den Fotojournalismus nicht völlig überholt? In der Werbung wird ja auch nicht nach Moral gefragt.


Hans Durrer
Zeitgemässe Anforderungen? Das klingt mir sehr nach Zeitgeist und mit diesem mitzugehen, beschäftigt mich nicht.
Als ich vor 13 Jahren an der School of Journalism Media and Cultural Studies für einen Master of Arts in Journalism Studies studierte, sagten uns die Lehrer, dass heutige Studenten kein Interesse an ethischen Fragen hätten; wenn ich selber Workshops mit jungen Studenten mache, sind es immer ethische und moralische Fragen, die zu engagierten Debatten führen. Ich glaube überhaupt nicht, dass moralische Ansprüche an den Fotojournalismus überholt sind; moralische Ansprüche gehören zum Menschen, sie sind zeitlos.
Ob man sich an der Werbung orientieren soll? Nun gut, es wird gemacht, teilweise. Für mich ist jedoch nicht so sehr relevant, woran sich der Fotograf orientiert, ob er „fokussieren, abstrahieren, reduzieren, emotionalisieren, appellieren“ will, denn am Ende kommt nie was anderes raus als ein Bild, eine zweidimensionale Reduktion einer dreidimensionalen Realität, die gleichwohl den Anschein macht, als ob sie die Realität wiedergebe. Das japanische Wort für photographieren ist übrigens „shashin“ und das bedeutet „die Wahrheit wiedergeben“; dass eine Photographie das nicht tut und gar nicht tun kann, ändert nichts daran, dass wir das doch glauben – bis jemand kommt und uns das Gegenteil beweist. Mein Punkt ist: was auch immer der Fotograf beabsichtigt, wie das Bild gelesen wird, kann er nur marginal beeinflussen, wenn er uns ausschliesslich das Bild liefert.
Zudem: dass Fotos darauf abzielen, Emotionen zu erzeugen, versteht sich. Das ist, was Bilder eben tun. Das war schon immer so und ist auch der Dokumentarfotografie eigen: wieso soll ein Dokument (auch ein Bild ist Dokument) keine Emotionen erzeugen können?


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Wir waren uns ja einig, dass das Siegerfoto 2013 von Word-Press auch gerendert sein könnte, also künstlich, digital erzeugt. Meiner Beobachtung nach hat sich die Ästhetik des Fotobildes gewandelt, viele fotojournalistische Arbeiten haben einen Gemälde- oder Zeichnungsduktus, der sich mit der rohen und unscharfen Ästhetik der analogen Fotografie nicht vergleichen lässt. Genau wie bei hochauflösenden HDI-Fernseh-Bildschirmen wirkt die neu gewonnene Schärfe und die noch nie da gewesenen Farbabstufungen auf den Betrachter künstlich und irreal.
Es scheint mir, dass diese Art von Fotografie schon längst den Bereich verlassen hat, den du als die „Wahrheit wiedergebend“ beschreibst. Hier wird inszeniert und der Verlust der Authentizität der Bilder ist gewollt.
Auf der anderen Seite findet man, besonders in den Pressemedien des Internets, sogenannte Handy-Fotos, die genau das ausstrahlen, was du als Fotojournalismus beschreibst: Ich bin da gewesen und habe das gesehen. Vom Fotografen her, der Bilder als Ware verkaufen will, ist diese zweigeteilte Entwicklung nachvollziehbar. Wie soll er denn zeigen, dass sein Profilbild noch Existenzberechtigung hat. Nur dadurch, dass er an der gestalterischen Schraube zieht, und zwar für jeden erkennbar: hier war ein Profi am Werk, hier hat kein Amateur geknipst. Es muss sich der „Wow!“- Effekt einstellen.
Natürlich hast du recht, wenn du darauf hinweist, dass es bei den Fotojournalisten auch moralische Debatten gibt. Nur, warum soll ich mich moralisch über Umstände einer Aufnahme echauffieren, wenn man das Foto auch digital zu Hause am Computer erstellen kann. Mir scheinen das aufgesetzte, literarische Debatten zu sein, die sich von den Bildern und ihrer Bildsprache her nicht rechtfertigen lassen. Diese “moralischen Debatten“ sind nur eine Fortführung der jeweils entbrannten Propagandaschlacht, in der das Presse-Foto eingesetzt wird.


Hans Durrer
Ich sehe das auch so, dass „die neu gewonnene Schärfe und die noch nie da gewesenen Farbabstufungen auf den Betrachter künstlich und irreal“ wirken. Ob der damit einhergehende Verlust der Authentizität gewollt ist, da bin ich mir nicht so sicher. In fast jeder Debatte über das Selbstverständnis des modernen Menschen taucht das Wort Authentizität auf und wird als erstrebenswert dargestellt. Und da soll die Fotografie eine Ausnahme sein?
Dass ein Foto digital zu Hause am Computer hergestellt werden kann, ändert meines Erachtens überhaupt nichts daran, dass die meisten Menschen von einem Foto erwarten, dass es ihnen zeigt, wie einmal etwas ausgesehen hat. Es hat noch nie so viele Kameras in privaten Händen gegeben wie heutzutage, was mir darauf hinzuweisen scheint, dass die Menschen nicht müde werden abzubilden, was ist. Und von der Pressefotografie erwarte ich genau dasselbe: dass sie ratifiziert, was sich vor dem Kameraauge befunden hat.
Für mich ist die Frage, was wir von Fotos wollen. Ich will von ihnen (ich meine hier immer dokumentarische Fotos und Pressefotos), dass sie mir die Wirklichkeit so zeigen, wie sie der Fotograf vorgefunden hat. Er soll mir zeigen, wo er gewesen ist, was er dort angetroffen und was er sich entschieden hat einzurahmen. Am liebsten stelle ich mir dabei den Fotografen wie einen Zen-Bogenschützen vor, mit nur gerade 36 Aufnahmen per Filmrolle.


Diese Zeiten sind vorbei? Es sieht ganz so aus, doch die Haltung, und um die geht es mir, die gibt es immer noch. Genau so häufig, wie es sie schon immer gegeben hat. Mit Haltung meine ich nicht alleine die Einstellung gegenüber der Fotografie, sondern gegenüber dem Leben. Für mich geht es in der dokumentarischen Fotografie darum, gestaltend abzubilden, was ist. Das setzt voraus, dass ich interessiert und bereit bin, mich auf die physische Welt einzulassen, mich aus dem Gefängnis meiner Gedanken zu befreien. Die Herstellung von Bildern am Computer ist für mich keine Fotografie, solche Bilder sind für mich reine Kopfgeburten – und natürlich können die interessant sein, doch mit dokumentarischer Fotografie und Pressefotografie haben sie meines Erachtens nichts zu tun.


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In deinem Vorwort zu den “Inszenierten Wahrheiten“ hast du den schönen Satz geschrieben: „Denn wir sehen nur, was wir schon wissen.“ Metaphorisch angewandt, scheint mir das nicht nur für das Wissen wie Fotos entstehen zu gelten, sondern auch für das menschliche Sehen an sich. Es gibt erste Untersuchungen, wie die Bildästhetik der Plasmabildschirme auf den Betrachter wirkt, und zwar werden die Bilder, die wir von ihrer Art und Aussage her schon kennen, als hyperreal empfunden; unbekannte, überraschend neue Bilder dagegen als authentisch. - Es scheint sich deine These zu bestätigen, dass das Bedürfnis der Menschen zu wissen, „was ist“, keine Grenzen kennt und auch die Bereitschaft groß ist, Änderungen der Bildsprache und der Zuordnung zu akzeptieren.
Mit der Sehnsucht der Menschen zu wissen, was ist, verbindest du aber in den „Inszenierten Wahrheiten“ auch die Frage der Ethik der Bildproduktion: wie, wann, wo und warum ist das Bild entstanden. Etwas polemisch formuliert forderst du ein fair-trade Siegel für Pressefotografie. Ist das nicht Selbstzensur? Kollidiert das nicht mit dem menschlichen Voyeurismus?


Hans Durrer
Ja genau, es gilt für das menschliche Sehen an sich. Um sehen zu können, müssen wir interpretieren und interpretieren können wir nur, was wir kennen/uns bekannt ist. Deshalb gehört soviel Information wie möglich zum Pressebild. Sicher, damit wird unser Sehen in eine bestimmte Richtung gelenkt, doch ohne Hinweise darauf, was sich vor unseren Augen abspielt, können wir nichts Neues sehen, sondern nur schon Bekanntes.
Ein fair-trade Siegel für Pressefotografie? Nein, nein, Gütesiegel und/oder Vorschriften sind mir suspekt. Auch, weil ich nicht wüsste, wie das in der Praxis aussehen, wer solche verleihen sollte/könnte.
Ja, der menschliche Voyeurismus, wir frönen ihm zwar, doch haben wir auch Angst davor. Aufgefallen ist mir das ganz besonders, als ich einmal in Südbrasilien ein Foto schiessen wollte. Siehe auch hier: www.icce.rug.nl/~soundscapes/EDITORIAL/oped1205.shtml



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Aus deinen Antworten ist deutlich ein aufklärerischer Impetus zu erkennen, der auch deine Essays in den „Inszenierten Wahrheiten“ bestimmt. Es geht als zentrales Thema immer um den Missbrauch der Fotografie in den Medien und deren propagandistischen Einsatz für politische Kampagnen.
Für den aufgeklärten Betrachter empfiehlst du, in klassischer Manier, sich dem Objekt, dem fotografischen Bild, nüchtern, fast wissenschaftlich zu nähern. Was ist tatsächlich auf dem Bild zu sehen, was ist Fantasie und Behauptung der Bildredakteure oder öffentlicher Diskurs über ein in die Schlagzeilen geratenes Bild.
In deinem letzten Essay mit dem Titel “die Sockenserie“ wird eine sehr merkwürdige Geschichte von einem Fotografen erzählt, Freddy Berchtold, der anlässlich eines Besuches bei seiner Freundin in San Francisco eine Obsession für das Fotografieren von einzelnen Socken auf den Quartierstraßen entwickelt. Diese Geschichte, die zu schön ist, um wahr zu sein, scheint dieser Gewissheit, durch Aufklärung, genaues Hinsehen, sich den wirklichen Wahrheiten des Lebens zu nähern, den Boden zu entziehen. Denn Fotograf Freddy Berchtold kommt im Laufe seiner weiteren fotografischen Recherche nach Socken der Verdacht, dass seine Freundin einzelne Paare für ihn in den umliegenden Straßen ausgelegt oder er sich selbst mit Socken aus dem Fundus seiner Freundin bedient hatte.
Wir können zwar mit den Augen die Zeichen der Wirklichkeit aufnehmen, aber das Sehen ist auch ein Akt des Gehirns, in dem das Vorgefundene mit den Erinnerungen abgeglichen wird. Bewegen wir uns bei der Erkennung der Realität auf schwankendem Boden? Sind wir folglich auch medialen Manipulationen hilflos ausgeliefert? Ist das die Quintessenz aus der Socken-Obsession des Freddy Berchtold?


Hans Durrer
Ja darum ist es mir unter anderem und ganz wesentlich zu tun: anzuerkennen, dass wir uns bei der Wahrnehmung der Realität tatsächlich auf schwankendem Boden befinden. Und dass wir uns unsere Realität so recht eigentlich erschaffen.
Sharon Cameron schreibt in „Beautiful Work: A Meditation on Pain“: "It is possible to think this: without a reference point there is meaninglessness. But I wish you'd understand that without a reference point you're in the real."
Die Bilder in unserem Gehirn haben keine Rahmen, sie gehen ineinander über, befinden sich in einem ständigen Fluss. Man könnte also sagen: Fotos von etwas, das andauernd im Fluss ist, kann es gar nicht geben. Und doch gibt es sie, wir stellen sie her und können sie ansehen, befühlen, betasten, aufbewahren. Mir geht es darum, dieses Paradox – dass wir uns eine Realität erschaffen, die es eigentlich gar nicht geben kann und trotzdem gibt – wahrzunehmen und anzuerkennen. Natürlich erschaffen wir nicht unsere ganze Realität, schliesslich gibt es viele Wirklichkeiten, die ohne unser Zutun existieren, von der Geburt bis zur Körpergrösse bis zum Gravitationsgesetz. Dazu kommt, dass wir die Welt, die wir erschaffen, nicht unter Kontrolle haben, denn sie verselbständigt sich. Nehmen wir als Beispiel die juristischen Gesetze: uns wird gesagt, dass wir immer mehr Gesetze brauchen, weil die Welt immer komplexer wird, obwohl wahrscheinlicher ist, dass wir immer neue Gesetze brauchen, weil es immer mehr Juristen gibt und diese etwas zu tun haben müssen. Wie auch immer: wir erfinden immer mehr Gesetze, machen uns dadurch von ihnen abhängig, sodass am Ende die Gesetze über uns bestimmen.
In der Socken-Geschichte wollte ich augenzwinkernd aufzeigen, wie wir oft, was wir behaupten, vorgefunden zu haben, selber geschaffen haben, jedoch uns dessen selten einmal bewusst sind. Und genau aus diesem Grund fordere ich, dass man mir so viel Information wie möglich über die Entstehung eines Fotos gibt, denn so können wir am Entstehungsprozess teilnehmen und sind nicht nur einem fertigen Produkt ausgeliefert. Anders gesagt: Je mehr wir über den Entstehungsprozess eines Bildes wissen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dem Mediendiktat, dem Expertendiktat, dem Interpretationsdiktat, nicht einfach ausgeliefert zu sein.


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Aktuell wird gemeldet, dass das Word-Press-Siegerfoto 2013 digital manipuliert wurde:
www.extremetech.com/extreme/155617-how-the-2013-world-press-photo-of-the-year-was-faked-with-photoshop
Schon der erste, ursprüngliche Abdruck des Fotos in der Schwedischen Zeitung Szegens Nyheter zeige dieselbe Szene mit den beiden toten Kindern, aber deutlich realistischer und für den Betrachter nachvollziehbarer. Wahrscheinlich wäre es in dieser Form nicht Sieger-Foto-Word-Press 2013 geworden. In welchem Umfang das Foto in Photoshop manipuliert wurde, ist noch in der Aufklärung.
Auf jeden Fall ist nicht nur uns der synthetische Charakter der fotografischen Bildsprache des Sieger-Fotos aufgefallen. Aber dieser Vorfall (nicht der erste bei dem Word-Press- Wettbewerb) zeigt eindrücklich, dass dir trotz deiner Recherchen um das Bild herum, keine wirklichen Zweifel an der Authentizität des Bildes gekommen sind. Denn die Tatsache, dass nach einem Raketenangriff diese beiden toten Kinder durch eine Männergruppe in den Gassen von Gaza-Stadt herumgetragen worden sind, ist belegt. Alles andere sind Behauptungen des Fotografen, dem du getraut hast – natürlich bist du in guter Gesellschaft mit der Jury des Word-Press-Wettbewerbes.
Aktueller Anlass für die Recherchen über das Siegerfoto war der irritierende visuelle Eindruck, die Theatralik und das gekünstelte Licht, also Wahrnehmungen, die auf der Bildlesekompetenz des menschlichen Gehirns beruhen und nicht auf Faktenwissen über die Entstehung des Bildes.
Wäre daraus nicht die Konsequenz zu ziehen: Bilder brauchen keine Worte, - entgegen deiner Ausgangsthese im Vorwort der „Inszenierten Wahrheiten“, die Worte als unbedingten Bestandteil des Fotobildes sehen -, sondern der Betrachter muss in seiner Bildlesekompetenz geschult und gestärkt werden? Geschichten um das Bild herum versuchen nur, den Betrachter zu verwirren und zu manipulieren? Warum hast du, trotz Unbehagens gegenüber dem Sieger-Foto 2013, dem Fotografen vertraut und nicht deiner Bildlesekompetenz?


Hans Durrer
Dass ich keine „keine wirklichen Zweifel an der Authentizität des Bildes“ gehabt habe, stimmt nicht; dass ich den Aussagen des Fotografen getraut habe, stimmt ebenso wenig; ich habe mich dazu nämlich gar nicht geäussert, ich habe Fragen gestellt. Zur Authentizität eines Bildes kann ich als Betrachter sowieso nichts wirklich Verbindliches sagen, doch wie bereits ausgeführt, mir kommt es darauf an, soviel wie möglich über den Entstehungsprozess eines Bildes (nicht nur vom Fotografen, sondern auch von den Fotografierten, mithin von allen am Bild Beteiligten – und mir dabei immer das schöne russische Sprichwort vor Augen haltend: „Er lügt wie ein Augenzeuge“) zu erfahren, denn nur das (vorausgesetzt, ich werde nicht bewusst angelogen) setzt mich letztlich in die Lage, das von der Kamera Abgebildete zu beurteilen.
Der Betrachter muss in seiner Bildlesekompetenz geschult und gestärkt werden? Unbedingt. Doch die Geschichten um das Bild gehören in der Pressefotografie eben genau so dazu, obwohl, da stimme ich dir zu, diese natürlich oft genug dazu eingesetzt werden, um „den Betrachter zu verwirren und zu manipulieren“.
Zudem: Mir ist einmal passiert, dass ich einem Fotografen sein übertriebenes Photoshopping angekreidet habe, ich musste mich dann aber belehren lassen, dass das Bild völlig ohne Photoshopping ausgekommen ist. Anders gesagt: auf meine eigene Bildlesekompetenz würde ich mich lieber nicht verlassen müssen, wird diese hingegen durch wahrheitsgetreue Informationen zum Bild ergänzt, ist die Wahrscheinlichkeit des Sich-Irrens etwas kleiner.



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Die technischen Entwicklungen bei der Bildbearbeitungssoftware, den Foto-Chips und dem Computer sind dermassen rasant, dass die Frage, was eine fotojournalistische Bildmanipulation ist, immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Vielleicht war dein Eindruck von dem übertriebenen Photoshopping richtig, nur war die Bearbeitung des Fotos nicht in Photoshop erfolgt. Deine Fotobildkompetenz hat dich möglicherweise zu Recht zweifeln lassen, ob das Bild nicht manipuliert ist. Die aktuellen technischen Referenzen bei der Frage, was ist noch eine Bearbeitung und was ist schon eine Manipulation, sind mehr verwirrend als klärend, denn es gibt keine nicht bearbeiteten digitalen Fotos. Schon in der Fotokamera arbeiten Bildbearbeitungsprogramme, und alle Fotografen nutzen dann noch sogenannte Entwicklungstools. Diese Entwicklungs-tools für RAW-Dateien (wie Aperture-Appel- und Lightroom-Adobe) geben dem Fotografen auf einfachste Weise gestalterische Mittel an die Hand, die in der sogenannten Post-Production genutzt werden. Die von den Profikameras aufgenommenen Bilddateien haben eine sehr große Informationsdichte, deren Umfang weder auf dem Bildschirm noch im Druck vollständig dargestellt werden kann. Mit den Entwicklungstools kann man aus der Fülle dieser Informationen gezielt Pixel verblassen, verstärken oder einfärben. Diese Bearbeitungsmöglichkeiten gehen weit über das hinaus, was je bei der analogen Fotografie in der Dunkelkammer möglich war.
Wenn es aber keine technischen Parameter mehr gibt, die die Grenzen anzeigen, wann ein manipuliertes Foto vorliegt, muss man sich auf Suche nach neuer Orientierung machen.
Auf jeden Fall besteht Konsens darüber, dass die digitale Montage eine Manipulation des Ursprungsfotos ist. Wann ein Foto lediglich durch die Bearbeitung im Entwicklungstool den Charakter des Dokumentarischen verliert, ist derzeit kontrovers.
Nun, da ich an die Bildlesekompetenz des Menschen glaube und auch an deren Relevanz, sich im Mediendschungel zurechtzufinden, würde ich als Kriterium vorschlagen: Ein dokumentarisch die Ereignisse aufzeichnendes Bild ist ein Foto, das für den Betrachter von seinem eigenen Erleben her nachvollziehbar ist. Habe ich als Betrachter das Gefühl, ich stehe quasi in der Situation, dann ist es „dokumentarisch“; ist das Bild von seinem visuellen Eindruck her nicht mehr von meiner eigenen Seherfahrung gedeckt, so ist das Bild vom Dokumentarischen in die Illustration gerutscht, es hat die Basis der journalistischen fünf „W´s“ (wo, wer, was, wann, wie) verlassen.
Wenn man aber, wie du, nicht an die Bildlesekompetenz des Menschen glaubt (und deren Schulung), ist man dann dem Bildmedien-Dschungel hilflos ausgeliefert?



Hans Durrer
Ich halte die Bildlesekompetenz für wesentlich und unbedingt fördernswert, weil zuerst überhaupt einmal geklärt werden müsste, was denn genau darunter zu verstehen ist. Du sprichst von der „Bildlesekompetenz des menschlichen Gehirns“, doch was wissen wir denn schon über dieses? „Die allermeisten Hirnaktivitäten werden vom Bewusstsein nicht einmal wahrgenommen“, schreibt E.O. Wilson in „Die soziale Eroberung der Erde“. So nützlich ich Bildlesekompetenz finde, sie allein genügt nicht, es braucht noch etwas mehr, nämlich Vertrauen. Ohne Vertrauen ist Kommunikation, und das schliesst die Kommunikation mittels Bildern ein, schlicht nicht möglich. Ich muss darauf vertrauen können, dass ich nicht angelogen werde, dass mir die Wahrheit gesagt/gezeigt wird. Und wenn diese subjektiv ist (und das ist sie sowieso), dann soll mir eben diese subjektive Wahrheit gezeigt werden. Und das soll klar so deklariert werden.
Ich finde deine Definition von „dokumentarisch“ sehr interessant, das eigene Erleben als Ausgangs- und Angelpunkt sinnvoll und die Orientierung an den fünf W's pragmatisch und hilfreich. Andererseits: Würde das streng genommen nicht auch bedeuten, dass das, was ich nicht kenne (mein eigenes Erleben also den Vorgang nicht nachvollziehbar macht), nicht dokumentarisch sein könnte?


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Der Begriff „Bildlesekompetenz“ erinnert an die unseligen Diskussionen in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts über die so genannte „Medienkompetenz“, die man schon in den Schulen den Kindern beibringen wollte, um sie vor den Verführungen des Fernsehens zu schützen. Du hast sicherlich recht, dass der Begriff „Bildlesekompetenz“ einer dieser modischen Topoi der Pädagogik des erhobenen Zeigefingers ist.


Es gibt aber eine besondere Fähigkeit der Menschen bei der Erkennung von Kommunikationssignalen, die vom menschlichen Körper und dem Gesicht ausgehen. Da der Fotojournalismus im Wesentlichen die Darstellung von Menschen beinhaltet, kann diese menschliche Qualifikation für die Erkennung von Bildmanipulationen eingesetzt werden. Ein ganz klassisches Beispiel dafür ist die Fähigkeit, in natura und auf Fotos Botox-aufgespritzte Lippen zu erkennen. Es wird durch das Gehirn nicht nur das Gesicht und der Körper nach Informationen des Gegenübers abgescannt, sondern auch realisiert, was mit den normalen Seherfahrungen nicht gedeutet werden kann. Diese Abweichungen werden dann durch den Betrachter in irgendeiner Form inhaltlich zugeordnet – bei manipulierten und retuschierten Fotos wird diese Abweichung häufig (kulturell bedingt) als „malerisch“, „zeichnerisch“ interpretiert, also als Kunst, die auch für die besondere Qualität eines Fotos stehen kann. Oder – je nach Bewusstsein (wahrscheinlich bei dir) – als ärgerlich empfunden, da der Fotograf den Wahrheitsanspruch aufgegeben und Informationen herausgefiltert hat.
Bei dem Vergleich zwischen dem Word-Press-Siegerfoto von Paul Hansen in der Print-Version aus dem Dragens Nyheter und dem gekürten Bild lässt sich dieses Phänomen gut nachvollziehen.(Siehe dazu: Spiegel Online, „Schwer zu sagen, wo Betrug anfängt“, Gespräch mit dem Digital-Forensiker Jens Kriese.)


Hans Durrer
Wie gesagt, mir ist nicht wirklich klar, was mit Bildlesekompetenz gemeint ist, doch finde ich sie, wie auch die Medienkompetenz, immer nötiger. Damit meine ich nicht den unseligen pädagogischen Zeigefinger (das darf man, das nicht; das ist sinnvoll, das nicht; das ist wünschenswert, das nicht), damit meine ich, dass wir einerseits Informationen darüber brauchen, wie die Medien funktionieren (von 'Wer entscheidet Wie aufgrund von Was?' bis zu den Besitzverhältnissen bis zu den Auslassungen, 'Omission is the most powerful source of distortion', so Nick Davies in 'Flat Earth News') beziehungsweise darüber, wie Fotos zustande kommen (von den technischen Aspekten zu den Umständen, in denen die Aufnahmen entstanden sind bis zur Biografie des Fotografen), und andererseits brauchen wir Wissen über Kommunikationssignale/Seherfahrungen etc., wie du es mit deinem Botox-Beispiel sehr schön aufzeigst.
Um informiert urteilen zu können, brauchen wir aber auch Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die unter anderem festgestellt hat, dass der Akt des Sehens wesentlich auf Interpretation beruht. Sobald wir etwas sehen, interpretieren wir dieses „Etwas“ unbewusst. "Die Interpretation ist also ein untrennbarer Bestandteil der visuellen Wahrnehmung“ (Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis). Da diese Interpretation, wie gesagt, weitgehend unbewusst erfolgt, wissen wir eben zu grossen Teilen überhaupt nicht, was wir denn da eigentlich tun. Sich dessen bewusst zu werden, erachte ich als hilfreich.


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Oben hast du angemerkt, dass ohne Vertrauen keine Kommunikation möglich ist. In meinem Weltbild stellt sich das aber völlig anders dar: Jede Information die ich erhalte, überprüfe ich unmittelbar auf ihren Wahrheitsgehalt - warum wird diese Information gerade jetzt lanciert? - und stelle mir die Frage, was bedeutet das für mich persönlich. Es ist doch selten, dass Leute bewusst lügen. Den Betrügern, denen ich bisher begegnet bin (das umfasst auch Fotografen), sind von der Wahrheit ihrer Bilder und Ansichten überzeugt. Wenn sie in Frage gestellt werden, fühlen sie sich zutiefst missverstanden. Letztendlich ist ein Betrüger nur wirklich dann überzeugend, wenn er auch an die Wahrheit seiner Betrügerei glaubt. Der Fotograf des Siegerfotos 2013, Paul Hansen, war ja auch (und ist es noch) völlig entrüstet, als ihm Manipulation seines Bildes vorgeworfen wurde. Er hat ja nur versucht, aus seinem Foto das optimal Bildnerische herauszuholen, ganz im Sinne der Bild-Message – wieder unschuldige Palästinenser-Opfer durch Israelisches Militär.


Hans Durrer
Deine Ausführungen bestätigen ja gerade, dass es ohne Vertrauen keine Kommunikation (im Sinne einer gegenseitigen Verständigung) gibt. Dass du offenbar jeder Information mit Misstrauen begegnest, bedeutet doch nichts anderes, als dass du Informationen suchst (auf sie angewiesen bist), denen du vertrauen kannst.Zudem: Was du hier ausführst (deine Skepsis, die Fragen, die du dir stellst) ist eine schöne Demonstration dafür, was ich mir unter Medienkompetenz oder Bildlesekompetenz vorstelle.


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Vom Aktuellen zurück zu deinen „inszenierten Wahrheiten“. Drei Kapitel umfasst deine Essay-Sammlung, deren Themen die “Bilder“, die „Worte“ und deren Wechselwirkung in den öffentlichen Medien sind. In den Essays ist alles zu finden, was derzeit in Diskussion steht: James Nachtweys Kriegsbilder, Robert Capas sterbender Milizionär, die Kulturkritik Susan Sontags, Folterbilder aus Abu Ghraib, das indexikalische Verhaftet sein des Fotos an seinem Gegenstand, das Dauerposing, die mediale PR-Schlacht als Propaganda. Vieles reizt zur Diskussion und zum Widerspruch. Drei Themen möchte ich noch am Ende des Gesprächs herausgreifen.
In deinem Kapitel “politisch korrekte Bilder?“ stellst du fest, dass auch die Fotobilderwelt von der Zensur des „politisch Korrekten“ eingeholt worden ist; also dieser Art von Zensur und Bevormundung, die mit einem anmaßenden moralischen Standpunkt bestimmen will, in welcher Art und Weise, mit welchem Titel und mit welchen Belehrungen für den – unterstellt - naiven Betrachter Fotos in der Öffentlichkeit als Ausstellung, als Pressefoto oder im Internet gezeigt werden dürfen.
Als eines der Beispiele für diese Diskussion über die politische Korrektheit von Fotos und deren Präsentation führst du den Streit um die Ausstellung „Pariser während der Besatzung (1940 bis 1944)“ an. In dieser wurden 270 Farbfotos des französischen Fotografen André Zucca gezeigt, der im Auftrag der deutschen Illustrierten „Signal“(wie alle deutschen Publikationen unterstand diese Zeitschrift dem Deutschen Propagandaministerium) mit dem schwer erhältlichen Agfa Farbfilm (Dia) Straßenalltag in Paris während der deutschen Besatzung fotografiert hatte. Diese Fotografien sind auch in dem gleichnamigen Buch (Ausstellungskatalog – Gallimard Paris) erschienen, so dass man an Hand der Bilder auch die Kontroverse, die bis heute anhält, überprüfen kann.
Ich persönlich finde „Pariser während der Besatzung“ eines der interessantesten Fotobücher, die in den null-er Jahren erschienen sind. Im Gegensatz zur klassischen Propagandafotografie der Zeit ist keine der Fotografien von Zucca inszeniert. Das ist klassische Straßenfotografie im sehr modernen amerikanischen Stil, der nicht auf Effekte oder skurrile Beobachtungen setzt, sondern auf den Alltag, dem genauen Hinsehen, und es dem Betrachter überlässt, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Da Bilder der deutschen Okkupation von Paris im öffentlichen Bewusstsein nicht vorhanden sind, wirken diese Bilder wie aus einem Sciencefiction-Film. Wehrmachtsoffiziere mit Aktentasche unterm Arm eilen zur Metrostation, sitzen vereinzelt in den Boulevardcafés, Gedränge vor dem Bahnhofsvorplatz, deutsche Propagandaplakate, Ufa-Film, Judenviertel mit Frauen und Judenstern, französische Jungfaschisten, Jahrmärkte, proletarische Jugendliche, gepflegte „Pariserinnen“, und eben Fahrradrikschas, um die fehlenden Taxis und Autos zu kompensieren. Dass über diese Ausstellung eine Kontroverse über die politische Korrektheit entbrannte, würde ich als deutliches Indiz dafür werten, dass die Fotografie als öffentliches Medium wahrgenommen wird. Das ist nicht selbstverständlich: die historische und künstlerische Dokumentarfotografie (um die handelt es sich hier) führte bis in die späten 8oer Jahre des letzten Jahrhunderts ein öffentliches Schattendasein.Natürlich gebe ich dir recht, dass Korrekteitsdebatten (wie auch im Falle Zuccas) ärgerlicherweise meist plump und mit einer durchschaubaren Aufmerksamkeitsstrategie geführt werden. Auf der anderen Seite sind diese Debatten auch ein Anzeichen dafür, dass ein wichtiges Thema angesprochen wurde, wobei die Korrektheitsdebatten häufig nicht die wahren Konflikte offen legen.
Im Falle der Paris-Fotos von Zucca ist der wahre Konflikt die verdrängte Wirklichkeit der vierjährigen Besatzungszeit der Deutschen und der Kollaboration wichtiger Teile der französischen Gesellschaft. Es ist natürlich verstörend, wenn ganz selbstverständlich im morgendlichen Gewühl vor einer Metrostation ein Wehrmachtsoffizier mit Aktentasche zu seinem Bürojob in der Militärverwaltung eilt. Denn die Alltagsfotos von Zucca zeigen, wie weit man sich mit der Besatzungsmacht arrangiert hatte. Natürlich fragt man sich auch, warum das Buch von Zucca nicht in „Paris im Fotobuch - Eyes on Paris-“ (2011) von Michael Koetzle auftaucht.


Hans Durrer
Ich stimme dir zu, dass die „Korrektheitsdebatten häufig nicht die wahren Konflikte offen legen. Im Falle der Paris-Fotos von Zucca ist der wahre Konflikt die verdrängte Wirklichkeit der vierjährigen Besatzungszeit der Deutschen und der Kollaboration wichtiger Teile der französischen Gesellschaft.“
Mir scheint der Mensch generell nicht sonderlich interessiert an der Auseinandersetzung mit den wahren Konflikten. Weil er, aus Selbstschutz, ganz generell die Dinge nicht so genau wissen will. Wie bemerkte doch Friedrich Nietzsche in 'Jenseits von Gut und Böse' so treffend: „Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein“.


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In demselben Kapitel über politisch korrekte Bilder führst du den in Berlin lebenden nigerianischen Fotografen und Kurator Akinbode Akinbiji mit seiner Äußerung über Sebastian Salgados Buch „Afrika“ als einen der Wächter der politischen Korrektheit vor. Deine Emphase ist nicht recht nachvollziehbar. Zwar bist du bekennender Salgado-Fan, aber hast dich auch als Kenner der afrikanischen Verhältnisse geoutet. Dass die meisten Bilder in Salgados „Afrika“ nichts mit dem realen Afrika zu tun haben, kann man seriös nicht bestreiten. Von Leni Riefenstahls „Nuba" - um mal in die Polemikkiste zu greifen - ist auch nicht behauptet worden, sie hätte damit die Würde und Schönheit des afrikanischen Menschen ins Bild gerückt. Aus weiser Erfahrung hat Frau Riefenstahl sich auf den Titel „Nuba“ beschränkt und die große Welterklärungsattüde im Sack gelassen.
Ich finde, „Afrika“ von Salgado ist eine eurozentristische Sicht auf den Kontinent mit rassistischem Unterton. Die heftige Reaktion von Akinbode Akinbiji erklärt sich auch daraus, dass Salgado als Brasilianer nicht die große Tradition der lateinamerikanischen Fotografie fortführt, sondern mit seinen Arbeiten erfolgreich den kunstgewerblich geprägten Fotomarkt der westlichen Industrieländer bedient. Besonders ärgerlich ist das, weil sich aktuell fotografische Stimmen aus dem afrikanischen Kontinent zu Wort/Bild melden, die weder unter dem Lable „naive Strassenfotografen“ noch „weiße Südafrikaner“ einzuordnen sind. Das bestätigt eben: Diskussionen über politische Korrektheit haben immer einen verdeckten, tabuisierten Problemkern, den es gilt aufzudecken.


Hans Durrer
Mir geht es darum, dass ich mir von niemandem sagen lassen will, was denn nun das reale Afrika ist, wie Afrika abgebildet und vermittelt werden soll. Das gilt nicht nur für Afrika, es gilt auch für die Schweiz. Oder für irgendein anderes Land/Ereignis/Vorkommnis. Wie Norman Mailer das in Bezug auf sein Buch über den CIA (Harlot's Ghost) einmal geschrieben hat: „It is a fictional CIA and its only real existence is in my mind, but I would point out that the same is true for men and women who have spent forty years working within the Agency. They have only their part of the CIA to know, even as each of us has our own America and not two Americas will prove identical.“
Eurozentristisch? Ein Brasilianer, der in Paris lebt, macht eurozentrische Bilder, wirklich? Worin zeigt sich das?
Rassistischer Unterton? Kann ich nicht erkennen. Und überhaupt, mehr als eine Behauptung (und für mich eine ziemlich unsinnige) ist das nicht. Dass sich, wie du schreibst, „aktuell fotografische Stimmen aus dem afrikanischen Kontinent zu Wort/Bild melden, die weder unter dem Lable naive Strassenfotografen noch weiße Südafrikaner einzuordnen sind“ ist sicher anerkennenswert, doch es klingt mir etwas arg nach „die Afrikaner sollen uns Afrika zeigen“ und das sehe ich anders. Dazu siehe auch:durrer-intercultural.blogspot.ch/2013/08/afrika.html
Zudem: Was ist denn hier der tabuisierte Problemkern?


fotokritik
Als Abschluss des Gesprächs ein historischer Exkurs: In deinem Essay mit dem Titel „Medienwelt“ beschreibst du den Fall der Mauer im November des Jahres 1989, den du unmittelbar vor Ort in Berlin Kreuzberg erlebt hast.
Das reale Geschehen in der Nacht vom 9. zum 10. November war dir unfassbar und eigenartig erschienen. Du hattest die Nachricht durch den Kellner der Pizzeria erfahren, in der du gegessen hast, und bist sitzen geblieben. Das erinnert mich an die Szene in dem West-Berlin Roman „Herr Lehmann“ von Sven Regener, dessen Protagonist auch so kalt in einer Kneipe von den Ereignissen erwischt wurde.
Erst als du im Fernsehen die aktuellen Bilder gesehen hattest, hat sich dir ein Gefühl von der Begeisterung und dem Spaß der Ost-Berliner mitgeteilt. Diese Fernsehberichterstattung sei dir viel realer vorgekommen als deine persönlichen Erlebnisse und auch die späteren Gespräche in den Kneipen.
Ich bin zur selben Zeit auch vor Ort gewesen, aber als “Native“, also Bewohner von West-Berlin. Das angebliche Gefühl von Begeisterung und Spaß der Ostberliner war natürlich eine mediale Interpretation, da hast du recht. Die Situation war für alle Beteiligten surreal, das dauerte auch noch die folgenden Wochen an, denn es war ja gar nicht klar, wie es politisch/militärisch weitergehen sollte.
Ich habe die Nacht, in der die Mauer fiel, als dramatischen „Mauer-Durchbruch“ und nicht als freiwillige Öffnung der Grenzübergänge erlebt, also als ein sehr real historisches Geschehen.
Aufgrund der Nachrichtenlage war mir am 8. November klar, dass beim Grenzübergang Bornholmerstrasse im Wedding ein Grenzdurchbruch zu erwarten war. (Im Nachhinein ist das auch plausibel, denn auf der anderen Seite lag der Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg mit der größten Ansammlung von Dissidenten in der DDR.)
Als wir am Grenzübergang ankamen, herrschte tatsächlich eine hochexplosive Situation. Auf der Bornholmer Brücke über den Bahngleisen, an deren Westseite sich die letzten Wachhäuschen befanden, standen dicht gedrängt Ostberliner, die lauthals skandierten. Dann kam der Durchbruch, die Grenzer an dem Kontrollhäuschen wurden einfach an die Seite gedrückt. Viele Ostberliner standen plötzlich in Westberlin und hatten das gar nicht beabsichtigt.
Als versierter Journalist hättest du dort natürlich mit O-Ton oder Kameramann eine sogenannte Jahrhundert-Reportage machen können. Es war die richtige Zeit, der richtige Ort und der richtige historische Anlass. Nur fehlte es an dem Geschichtenerzähler - ich war kein Journalist -, die Fernsehteams kamen erst später, als auch die anderen Grenzübergänge überflutet wurden.
Was ich damit sagen will: Es gibt große Geschichten, die sind aber die Ausnahme. Nur: Journalismus ist "Storytelling", also Unterhaltungsindustrie. Das Problem ist nur, dass von den Medien behauptet wird, dies sei die Realität. Aber um dies zu glauben, gehört auf Seiten der Rezipienten auch eine gewisse Einfalt, die Bildungsfalle? Oder nur unterstellt?


Hans Durrer
Ich stimme zu: Journalismus ist ganz klar „Storytelling“ und damit natürlich Fiktion. Wenn wir diese Fiktion glauben, wird sie zur Realität. „Man is made by his belief. As he believes, so he is“, sagt die Bhagavad Gita.
Das Problem für mich ist nicht, dass die Medien behaupten, die Realität abzubilden, denn das tun sie nicht/können sie nicht, das Problem ist, dass wir (die Rezipienten, wie du schreibst), das glauben. Und uns dann daran orientieren. Wenn wir das begreifen, dann können wir auch verstehen, dass die uns vorgesetzte Wirklichkeit nur eine unter vielen möglichen Wirklichkeiten ist.
Wenn wir lernen, selber zu denken (und das bedeutet auch, uns nicht ausschliesslich von den Themen, die uns die Medien vorgeben, leiten zu lassen, sondern uns {auch medial} eigene Themen zu schaffen – das ist etwas, das dank des Internets möglich geworden ist), dann setzen wir uns in die Lage, selbständig zu entscheiden, ob, wie, und in welchem Ausmass wir unsere Welt-Wahrnehmung von den Medien bestimmen lassen wollen.


fotokritik
Ja, selbstständig entscheiden – hört sich immer gut an. Aber auch hier die Frage, wann entscheidet man wirklich selbst? Die Medien sind Reflexe unserer Gesellschaft, also unmittelbar mit uns verbunden. Auch für die Gegenöffentlichkeit des Internets gilt nichts anderes. Und was sind eigene Themen? Was ist verständlich denken?
Vielleicht ist das ja alles viel subversiver als wir meinen. Vielleicht sagt uns bald die neue Gehirnforschung: Der Mensch lebt in einer realen und in einer Fantasiewelt, der Medienwelt. Diese beiden Welten vermengen sich zwar im Kopf, beeinträchtigen sich aber nicht. Die Propaganda des Journalismus wird nicht der realen Welt zugeordnet, sondern der triviale Alltag bekommt seinen besonderen Kick durch die Umnebelung mit dem Medientheater. Man ergänzt sich, bildet Synergien.
Mir kommt das Sockenbeispiel deines Fotografen Freddy Berchtold wieder in den Sinn. Ist deine Weltwahrnehmung wirklich gefährdet? Sind wir „Gebildeten“ nicht vielleicht nur gekränkt, weil uns die Medien links liegenlassen und uns kein adäquates Programm anbieten? Vielleicht langweilst du dich nur und forderst die angemessene Medienunterhaltung?


Hans Dürrer
Wann entscheidet man wirklich selbst? Nun ja, für mich ist das weniger eine philosophische als eine pragmatische Angelegenheit: Was man selbst erlebt hat, erlaubt einen anderen Zugang als Hörensagen. Was man mit eigenen Worten sagen kann, hat man verstanden.
Ob das immer stimmt, weiss ich nicht und kümmert mich auch nicht, doch als Grundregel fahre ich damit ganz gut, will heissen: ich fühle mich so etwas weniger ausgeliefert, auch etwas weniger fremdbestimmt.
Was sind eigene Themen? Diejenigen, mit denen ich die meiste Zeit verbringe. Ob die nun in meinem Inneren entstanden sind oder mir von den Medien zugetragen worden sind, spielt für mich keine entscheidende Rolle.
Dass wir „Gebildeten“ gekränkt sein könnten, weil uns die Medien links liegen lassen, kann durchaus sein. Was mir zum Beispiel von der Tagesschau geboten wird, beleidigt meine Intelligenz. Auf den Punkt gebracht hat es einmal Donald Trump, als er, am Beispiel der amerikanischen Aussenministerin (es hätte auch irgendeine andere Politikerin oder irgendein anderer Politiker sein können), die gängige Aussenpolitikberichterstattung kommentierte: “She goes on a plane, she gets off a plane, she waves, she goes there to meet some dictator . . . They talk, she leaves, she waves, the plane takes off. Nothing happens. It’s a joke . . . Nothing ever happens.”
Worauf es mir ankommt, hat Henry David Thoreau sehr schön formuliert: „So lasst uns also unser Leben begreifend verbringen.“ Wenn die Medien dazu beitragen können, lasse ich mir sie gerne gefallen.


fotokritik
Vielen Dank für das Gespräch



Für fotokritik führte das Gespräch Thomas Leuner




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Zur Person:
Hans Durrer, Jahrgang 1953, Jurist, Journalist. Seit 2000 publizistisch tätig im Bereich Fotografie und Medien. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (Bangkok 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Glarus/Chur 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Houston 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Zürich/Chur 2013).
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Für fotokritik führte das Gespräch Thomas Leuner




24.09.2013