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Nachdenken über Fotografie - Nr.1: Gespräch mit Ulrich Görlich über den Beitrag „Werkstatt Wirklichkeit“ von Esther Ruelfs (2003)und die zeitgenössische deutsche Fotografie

von Thomas Leuner


Link zum Artikel „Werkstatt Wirklichkeit“ von Esther Ruelfs www.fotokritik.de/_artikel_120_1.html




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Gerade hat Hubertus von Ammelunxen in „Lettre International“ einen Beitrag mit dem einprägsamen Titel „Pictures on Demand: Von der Vielfalt des Historischen und der Einfalt des Künstlerischen“ veröffentlicht (Lettre International Nr. 89, Sommer 2010, S. 112). Darin artikuliert er das Unbehagen an einer Fotografie, die auf Überwältigung ohne eigene Inhalte setzt. Er formuliert sozusagen eine Kritik an der post/postmodernen Fotografie eines Gursky, Demand oder Jeff Wall. Ist Esther Ruelfs „Werkstatt Wirklichkeit“ dazu ein Gegenmodell?



Ulrich Görlich


Die beiden Texte in einen Zusammenhang zu bringen, erscheint mir etwas gewagt: Esther Ruelfs beschreibt einige Stationen der Fotografie in der BRD anhand der Stipendienvergabe. Das kann man/frau machen, aber ob es ein umfassendes Bild der Situation in der BRD wiedergibt, bleibt eine berechtigte Frage. Beispielsweise wird Förg nur erwähnt und die theoretische Tiefe ist eher knapp, im Gegensatz zu dem Text von von Amelunxen.
Prinzipiell muss ich ihm zustimmen, finde bei Esther Ruelfs aber auch keine Verteidigung der erwähnten Fotografen Gursky und Demand. Deren beider Frühwerke schätze ich noch immer und die Kritik von von Amelunxen bezieht sich berechtigterweise auf die neueren Bilder. Warum Demand später statt eigener öffentliche Bilder als Vorlagen genommen hat, ist erklärbar (Kontextualisierung! für die sogenannte Kunstkritik und den Kunstmarkt: jeder versteht nun, worum es geht.), aber es hat den Bildern die Magie genommen und den Betrachtern die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen mit den Bildern zu verbinden.
Von Amelunxen kritisiert den direkten und damit platten Bezug bei Demand zu den Vorlagen und der abgebildeten Realität bei Gursky, deren Fotografien leider immer mehr zu einer Großausführung von Geo-Fotografien geworden sind.



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„Werkstatt Wirklichkeit“ meint bei Esther Ruelfs die These, die künstlerisch fotografische Auseinandersetzung in Deutschland sei geprägt durch das Abarbeiten an dem, was fotografische Realität noch sein kann. Hier ein kurzes Zitat: Nachdem man den Glauben an ein repräsentatorisches Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit abgelegt hat und auch die These, ein Wirklichkeitsfragment darstellen zu können, bezweifelt wurde, ist in den 1990er Jahren die Konstruiertheit der Realität ein wichtiges Thema der Fotografie geworden. So wird für eine Reihe der Stipendiaten „Raum“ zum Thema. Hierbei spielen gebaute Raummodelle eine Rolle, wie sie bei Christine Erhard, Thomas Demand und Ricarda Roggan zu finden sind.
Verstehe ich Dich richtig, dass die Arbeiten von Demand und Gursky mit Ausnahme ihres Frühwerkes dieses Spannungsverhältnis zur Realität verlassen haben, also sich von der „Werkstatt Wirklichkeit“ verabschiedet haben? Also doch „Werkstatt Wirklichkeit“ als Gegenmodell?



Ulrich Görlich


Nein, meine Kritik an Demand und Gursky bezieht sich auf die künstlerische Qualität ihrer Arbeiten, die ich in den früheren Arbeiten höher einschätze. Eine grundsätzliche Änderung ihrer Arbeitsweise ist nicht zu sehen und damit auch nicht in ihrem Verhältnis zur fotografierten Realität. Dem Begriff "Werkstatt Wirklichkeit" kann ich nichts abgewinnen, "Werkstatt Fotografie" fände ich passender. Wir definieren unser Verhältnis zu dem, was Realität heißt, permanent neu. Die Kunst und die Fotografie sind dazu Mittel.



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Ähnlich kritisch zur Rezeption der Fotografie im Kunstbereich hat sich kürzlich der englische Fotograf Paul Graham anlässlich der Verleihung des Guggenheim-Stipendiums in New York geäußert. Er meinte, die Kunstkritik und die Kunstwissenschaft hätten die Fotografie nicht begriffen. Es ging ihm dabei wohl um die Nichtbeachtung der sogenannten „Straight Photography“, also der Fotografie direkt mit der Kamera ohne Bildbearbeitungseingriffe. Hat das ein „Mehr“ an Wirklichkeit zur Folge? Löst Paul Graham das mit seinen eigenen Arbeiten ein?



Ulrich Görlich


Ein altes Thema. Im Kunstmarkt findet vor allen Dingen eine konzeptionell unterfütterte Fotografie Verständnis. Der Ansatz der Straight Photography, der sozusagen die Freude an der Produktion des einzelnen Bildes proklamiert, ist immer noch in der Nähe der Amateurfotografie angesiedelt. Eine Kontextualisierung oder Einbettung der Arbeit in einen Diskurs ist Bedingung für das Funktionieren von Kunst. Und das wurde von der Straight Photography nicht geleistet, außer im Falle der Dokumentarfotografie, wovon, Ironie des Schicksals, gerade die Becher-Schule profitiert. Von dieser unterschiedlichen Repräsentanz auf dem Kunstmarkt auf Fragen nach "Wirklichkeit" oder ja oder nein zur Bildbearbeitung zu kommen, finde ich etwas weit hergeholt. Der Kunstmarkt entscheidet über Verkaufbarkeit und nicht über den Anteil an Wirklichkeit in den Fotografien.
Paul Graham hat ja durchaus auch konzeptionell angelegte Arbeiten und ist auf dem Kunstmarkt auch präsent. Von daher empfinde ich eine solche Aussage eher als Jammern auf hohem Niveau.



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Was meinst Du mit: „Der Ansatz der Straight Photograpy, der sozusagen die Freude an der Produktion des einzelnen Bildes proklamiert, ist immer noch in der Nähe der Amateurfotografie angesiedelt – „Amateurfotografie“? Also kein künstlerisch-professionelles Niveau? Und: Welchen Stellenwert hat denn überhaupt der sinnliche Akt des Fotografierens bei der Benutzung einer Kamera als Künstlerwerkzeug.



Ulrich Görlich


Eben, das ist der Mythos der Fotografie, dem nur noch in der Amateurfotografie gehuldigt wird. Oder wenn in der Kunst, dann wie bei Georg Winter, der diesen Mythos thematisiert und ironisiert.



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Gehen hier nicht zwei Sachverhalte durcheinander? Es gibt ja den schönen Begriff des "guten Fotos“. Ein Begriff, der in der Amateur- und Handwerksfotografie immer wieder fast mythisch beschworen wird. Sicherlich ist dieser naive Glaube nur noch ironisch zitierbar. Aber dennoch: Ist die "Straight Kamerafotografie“ nur eine Technik unter anderem, um Bilder herzustellen, also neben Malerei, Zeichnung, Film? Es sind dazu gewisse Fertigkeiten notwendig, Begabungen und Übung. Warum sollten die durch die Kamera hergestellten Aufnahmen nicht kunstfähig sein, wenn Malerei, Zeichnung und Film als museumskompatibel in keiner Weise in Frage gestellt werden?



Ulrich Görlich


Die beiden Aspekte überschneiden sich. Sicherlich zeichnet sich eine gute Arbeit, die wir als Straight Photography verstehen, auch durch formale, ästhetische und sinnliche Qualitäten aus. Ohne diese Qualitäten sind keine guten Fotografien denkbar! Aber ohne eine gleichzeitige theoretische oder konzeptionelle Einbettung in einen Kontext bleibt es bei der "schönen" Fotografie. Es ist also nicht die Frage, ob mechanisch hergestellte Bilder kunstfähig sein können, sondern welche Kriterien sie erfüllen müssen, um als Kunst angesehen zu werden.



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Für die „gesellschaftliche Wirklichkeit“ ist derzeit fast ausschließlich der Fotojournalismus zuständig. Es tauchen in diesem Zusammenhang Begriffe wie „slow journalism“ und „Dokumentarfotografie" auf. Wo bleibt da die Kunst oder, ist alles schon im „Crossover“ untergegangen?



Ulrich Görlich


Ist das wirklich so? Demand? Oder sogar einige Gursky-Fotos, wie das einer riesigen Rinderfarm oder der 99cent-Laden? Ganz davon abgesehen, warum sollte die Kunst dem Journalismus die Arbeit abnehmen? Oder wieso vergleicht man überhaupt die beiden Bereiche?
Gesellschaftliche Themen werden in der Kunst immer wieder behandelt, im Moment vielleicht weniger in der künstlerischen Fotografie, die sich mit sehr formalen Aspekten oder Themen aus der Moderne beschäftigt.
Der Bildjournalismus hat sich in den letzten 20 Jahren nicht weiterentwickelt. Die letzte Neuerung war das Schräghalten der Kamera .... Von daher ist er künstlerisch zurzeit nicht interessant. Und er kann nicht aus sich heraus. Während die Kunstfotografie ein Bestandteil der Kunst geworden ist, auch und gerade im Crossover, ist der Bildjournalismus immer noch im Bejammern der fehlenden Publikationsmöglichkeiten.
Ob das Internet für neue Impulse sorgt, ist mir nicht klar oder zumindest sehe ich sie im Moment noch nicht. Vielleicht ist der "reine" Bildjournalismus passé und müsste sich ebenfalls im Crossover neu definieren.



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Andere Auguren der Fotoszene sehen aber viel Bewegung: Urs Stahel, der Direktors des Fotomuseums Winterthur, zum Beispiel, konstatiert einen rasanten Wandel des Fotojournalismus, der geradezu einen Paradigmawechsel gleichkommt. Im Neuen „Du“ hat er ein Essay mit dem Titel "Wohltemperierte Formeln gehen um die Welt“ veröffentlicht. Zitat: "Diese Bilder (des modernen Fotojournalismus) haben die Rohheit der analogen Pressefotografie des 20. Jahrhunderts verloren. Sie sind nicht Abbild, sondern Darstellung, weniger Fotografie denn Malerei. Diese sorgfältig digital bearbeiteten Arbeiten sind wie Illustrationen, nur bildliche Realisierung bestimmter Themen. Wo früher Authentizität vorgegaukelt und ein Rausch der Wirklichkeit erzeugt wurde, erscheinen diese Bilder nun als geklonte Wahrheiten, als wohltemperierter, ästhetisierender Entwurf." (Zeitschrift "Du", Oktober 2010, S. 106).
Oder Klaus Honnef, der Übervater der westdeutschen Kunstfotografie, referiert im Januar im Suermondt-Ludwig Museum Aachen zur dortigen Dirk-Reinartz- Ausstellung zum Thema „Story oder Kunstwerk, Fotojournalisten erobern die Museen.“



Ulrich Görlich


Von welchen Bildern spricht Urs Stahel? Von denen, die heute veröffentlicht werden? Dann hat er Recht. Allerdings sagt Andrė Gelpke schon seit Jahren, der Bildjournalismus illustriert nur. Also weder neu noch ein Impuls für die Kunst, sondern lediglich ein Nachvollziehen dessen, was in der künstlerischen Fotografie schon in den 90er Jahren verhandelt wurde, die neuen Möglichkeiten der Bildbearbeitung und die Folgen (siehe das Zitat von Esther Ruelfs oben). Und zu Honnef: Herrgott, das Werk von Reinartz tourt schon eine ganze Weile. Daraus einen Trend abzuleiten, finde ich etwas überflüssig und überholt. Die Mode hatte die Museen erobert, die Fotografie auch, aber was ist die Neuigkeit?



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Kommen wir nochmals als roten Faden des Gesprächs zu Esther Ruelfs Beitrag „Werkstatt Wirklichkeit“. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen der Fotografie in den achtziger Jahren war die von Klaus Honnef aus der Taufe gehobene „Autorenfotografie“. War das die Kreation eines 80er Jahre Nischenidylls?



Ulrich Görlich


Der Begriff Autorenfotografie ist nur zeitbezogen zu verstehen. Er diente der Abgrenzung der neuen Fotografen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre vom Bildjournalismus, der bis dahin die ernste Beschäftigung mit der Fotografie darstellte. Auch die einzige Fotoschule in Deutschland, Steinert in Essen, war eine Schule des Bildjournalismus. Die neuen, unabhängig arbeitenden Fotografen brauchten eine Definition ihres Tuns, da die Fotografie als künstlerisches Medium noch nicht akzeptiert war und daher der Begriff Künstler für Fotografen noch nicht üblich war. Der Begriff Autorenfotograf half, ein neues Selbstverständnis zu finden.
Von einem Nischenidyll würde ich nicht reden. Es war eher ein Missverständnis über die Funktionsweise des Kunstmarktes: Wenn ein 18x24 cm Schwarz-Weiß-Print 300 DM kostete, dann verdient die Galerie 150 DM! Das ist finanziell völlig uninteressant und deckt noch nicht einmal die Unkosten. Dies nicht gesehen zu haben, ist das idyllische Missverständnis von uns in den frühen 80er Jahren. Erst mit den großen Prints der Becher-Schule hat sich das geändert, wobei festzustellen ist, sie waren nicht die ersten. Förgs Fotos waren schon vorher recht groß und es gab eine Ausstellung mit dem Titel „Blowup“ Anfang der 80er.



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Die nachfolgende Periode, Ende der achtziger Jahre, wurde durch eine engagierte, kritische, sozial orientierte Fotografie geprägt, in der sicherlich auch die Fotografien des Ehepaars Becher, eines Teils ihrer Schüler und Fotografen wie Michel Schmidt ihre Ausgangsbasis haben. Ein Teil der damals in Erscheinung getretenen Fotografen wie Hermann Stamm, Reinhard Matz und andere sind fast völlig aus dem aktuellen Bewusstsein verschwunden. Auch die damaligen Diskussionen erscheinen in ihrer Relevanz kaum noch nachvollziehbar. Auf der einen Seite wurde eine Dokumentar-Fotografie ohne persönliche Handschrift propagiert (Michael Schmidt, Thomas Struth), die einer Fotografie mit deutlich subjektiven Eingriffen gegenüberstand (Reinhard Matz, Martin Manz). Die letztere dieser Positionen hatte damals viel Resonanz, da in ihr ein aktueller Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion gesehen wurde: Umweltzerstörung, Zersiedelung usw. Soweit in etwa die Darstellung von Esther Ruelfs. (Gut nachlesbar auch in Joern Glasenapp, „Die deutsche Nachkriegsfotografie", 2008, S. 315 u. 338).
Aus heutiger Sicht erscheinen dieses Szenarium und diese Diskussion wie in ferner Vergangenheit zu liegen. War das der Ausdruck einer gewissen Naivität oder eines Dogmatismus, der auch mit der damaligen kulturellen und politischen Situation zusammenhing?



Ulrich Görlich


War das so? Das Verständnis von Michael Schmidt zum Beispiel war schon Ende der 70er Jahre sozialkritisch, als Folge der Politisierung nach 68. Was sich geändert hat, ist die Einsicht, es gibt keine Fotografie ohne persönliche Handschrift. Gerade Schmidts Fotografien sind eine extrem individuelle Sicht.
Welche ästhetische Strategien überleben, hat mit der Frage zu tun, an welche Bilder können wir wieder "andocken", wenn sich die gesellschaftliche Realität und ihre Diskurse verändert haben? Und hier scheint mir die sogenannte subjektive Fotografie im Nachteil zu sein, denn sie rückt das individuelle Befinden in den Vordergrund und mag daher im Rückblick weniger nachvollziehbar zu sein.



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Kannst du das noch näher erläutern. Es gibt einmal die Position, in der der Fotograf als Herr des Geschehens gilt, also behauptet: So, wie ich das fotografiert habe, ist/war es auch. In diesem Kontext sind natürlich unterschiedliche Bildsprachen möglich. Dagegen seht die Haltung des Fotografen, die mit den Bildern erkennbar sagen: Das ist meine persönliche, eingeschränkte Sicht mit deutlich autobiografischen Elementen. Klassisches Beispiel wäre Nan Goldin. Bei Robert Frank kann man beides finden: „The Americans“ und „Lines of my hand“.
Ist das der Unterschied den du meinst? Mir scheinen nur die Arbeiten von Reinhard Matz und Martin Manz nicht unter die subjektive Fotografie zu fallen.
Und noch zur Fotografie der Befindlichkeiten: Subjektive Befindlichkeiten stehen in der Literatur ganz selbstverständlich im Vordergrund, sie machen geradezu einen wesentlichen Bestandteil der geschriebenen Kunst aus. Denkbar ist natürlich, dass bei fotografischen Bilderzählungen und Konzepten Erfahrungen mit der Darstellung der eigenen Befindlichkeit fehlen? Oder, vielleicht sind Fotografien mit dieser Intension in einer den Betrachter bewegenden Form gar nicht möglich? Mit der Kamera und Photoshop kann man keine persönlichen Befindlichkeiten darstellen?



Ulrich Görlich


Das Adjektiv "subjektiv" habe ich benutzt, da du es in der Frage benutzt hast, um die Fotografien von Matz und Manz zu charakterisieren. Dass ich daraus subjektive Fotografie gemacht habe, ist allerdings nicht korrekt, das stimmt, es sind lediglich Tendenzen. Den Begriff des Subjektiven sollten wir verbannen, es ist eine akademische Diskussion. Ist die Arbeit von Nan Goldin wirklich subjektiver als die vom Michael Schmidt? Sie ist sicherlich persönlicher, aber ich würde den "Realitätsgehalt" genauso wenig in Frage stellen wie bei Michael Schmidt. Noch deutlicher wird es vielleicht bei Robert Frank, der mit seiner Befindlichkeit oder Sensibilität ein Amerika-Bild geschaffen hat, welches beinahe objektive Züge trägt.
Deine Frage wie Nachhaltigkeit oder auch langfristiger Erfolg mit künstlerischen Arbeiten zu erreichen ist, ist wohl kaum umfassend zu beantworten. Einen Aspekt habe ich oben mit der Möglichkeit des inhaltlichen "Andockens" angedeutet.
Ein zweiter, der mir im Zusammenhang mit Deine Frage in den Sinn kommt: Die Hartnäckigkeit oder der Grad des Insistierens auf einen künstlerische Aussage oder, wenn man will, Weltsicht. Mir scheint, dass Künstler, die immer wieder ihre Arbeitsweise und Themen verändern, eher "vergessen" werden, als die monomanen, die immer wieder in die gleiche Kerbe schlagen.



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Was bis heute sicherlich eine Wirkung hat, ist die damals geführte Diskussion über Fotografie und Text, sowie die Frage, ob eine Fotografie überhaupt eigenständig als Bild verstanden werden kann. Herbert Molderings sah in der Verbindung von Schrift und Bild die Möglichkeit, dem naiven Realismus zu entgehen und sich auch einer Ästhetisierung zu entziehen. (Esther Ruelfs, S. 6).
Dahinter steht eine lange bis heute reichende Tradition der Medientheorie, die dem fotografischen Bild für sich allein keinerlei Aussagekraft zubilligt. Diese These vom „Elend der Fotografie, die immer auf den Kontext angewiesen sei“ - so der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim - wird auch von den Schriftstellern Berthold Brecht und John Berger, der Essayistin Susan Sontag, dem Künstler Allen Sekula, den Filmwissenschaftler André Bazin und Siegfried Kracauer vertreten. Diese Diskussion hatte auch in den achtziger Jahren stattgefunden, zugespitzt durch Roland Barthes: "Wie lange ich das Bild auch betrachten mag, es teilt mir nichts mit. Auch wenn ich mich noch so sehr mühe, alles, was ich feststellen kann, ist, dass es so gewesen ist." (Roland Barthes, Die Helle Kammer, S. 117).
Woher kommt diese fundamentale Kritik der Intellektuellen? Verstehen sie die Sinnlichkeit der fotografischen Bildsprache nicht? Oder spiegelt sich darin die Ablehnung eines naiven Glaubens an das Kamerabild der Straight Photography wieder, wie Du sie schon oben formuliert hast?



Ulrich Görlich


Es bleibt eine richtige Feststellung, dass eine Fotografie kontextabhängig ist und auf Kontextveränderungen sehr sensibel reagiert. Diese Tatsache zu beschreiben, bedeutet nicht, die sinnliche Qualität nicht zu sehen. Das kann man Barthes wirklich nicht unterstellen! Fotografen, die auf die Übermittelung von spezifischen Inhalten oder Positionen Wert legen, versuchen, den Bildern mit Texten eine bestimmte Bedeutung zu geben. Alan Sekulas Fish Story ist nur mit dem Text in der intendierten Richtung zu lesen. Die Fotografien ohne Text wären auch völlig anders interpretierbar.
Vielleicht liegt ja der Erfolg der Becher-Schule oder der Dokumentarfotografie im Allgemeinen auch in diesem Phänomen: Diese Fotografien bringen durch den abgebildeten Gegenstand immer einen Kontext mit. Für mich lässt sich damit auch das nicht nachlassende Interesse an Fotografien eines z. B. William Henry Jackson erklären. Diese Fotografien sind immer wieder neu lesbar.



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Die Ereignisse um die besonderen Erfolge des Ehepaars Becher und ihrer Schüler können wir im Weiteren getrost ausblenden, dazu ist genug gesagt und geschrieben worden. Interessanter ist natürlich, was fehlt oder überschattet wird. Du hattest ja oben schon die Arbeiten von Günther Förg erwähnt, als Beispiel für großformatige, wandfüllende Fotoarbeiten. Die Verfahrensweise kann man wohl als experimentelle Fotografie bezeichnen, in der künstlerische Mittel verwendet werden, die von der gegenständlich- realistischen Fotografie erkennbar abweichen. Dies mit dem Verweis auf die Avantgardekunst der zwanziger Jahre, um den Kunstcharakter der Arbeiten unmissverständlich festzulegen.
Neben Astrid Klein, Rudolf Bonvie werden dazu auch Arbeiten von Martin Kippenberger, Siegmar Polke und Katharina Sieveking gezählt. (Esther Ruelfs, S. 10). Ebenso wie die von der Bildfläche wieder verschwundene inszenierte Fotografie bleiben nur einzelne Episoden oder Einzelerfolge, die auf anderen Umständen basieren als auf den konkreten fotografischen Arbeiten. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieser fotografischen „Avantgardekunst“ kann ich nicht erkennen.
Wiederholt sich hier das Schicksal der subjektiven Fotografie eines Otto Steinert und der Avantgardefotografie der zwanziger Jahre?



Ulrich Görlich


Es ist das Schicksal dieser "Avantgarde-Fotografie", nur so lange interessant zu sein, wie der entsprechende Kontext oder die dazugehörige Philosophie aktuell ist. Wenn diese verschwinden, verschwinden auch die Bilder, denn es gibt keinen Bildgegenstand, der weiterhin interessant sein kann (siehe oben) und als "abstrakte" Bilder stehen sie in Konkurrenz zu den Arbeiten in den anderen Medien der Kunst.
Diese Tatsache verhindert aber nicht den immer wieder neuen Versuch, die Fotografie von der Abhängigkeit von der Realität zu lösen und in die Abstraktion zu führen. Gerade zurzeit arbeiten die interessanteren und erfolgreicheren jungen Schweizer Fotokünstler unter diesem Aspekt.



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Politisch und kulturell ist das Jahr 1990 eine entscheidende Zäsur. Betrachtet man die fotografische Reflektion dieser Zeit und deren Umstände, so hat der Zusammenbruch des Ostblocks kaum erkennbare Spuren hinterlassen. Neu hinzugetreten ist sicherlich die "DDR-Fotografie". Ist das eine Entdeckung oder ist sie schon zur Folklore verkommen?



Ulrich Görlich


Insidern war die Fotografie der DDR schon vorher bekannt und die Frage, ob die Arbeiten interessant sind, weil sie aus der DDR kommen oder weil sie einen neuen anderen Ansatz zeigen, hat sich nicht geändert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, beruht der Erfolg auf ersterem und das hat mit Folklore zu tun. Etwas Neues ist nicht hinzugekommen, was die mangelnden Spuren erklärt.



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Der Beitrag von Esther Ruelfs endet mit dem Hinweis auf die Bilder von Zoltán Jòkay, „der im Bereich der Gattung der Porträtfotografie die Bedeutung des fotografischen Realismus neu formulierte.“ (Esther Ruelfs, S. 13). Interessant an dieser „Neuformulierung“ der Porträtfotografie Anfang der neunziger Jahre erscheint mir der Umstand, dass sie nicht eindeutig west- oder ostdeutsch einzuordnen ist. Es gibt eine ganze Reihe von Fotografen/innen, die diese Art von Porträtfotografie betrieben haben und betreiben. Ich denke an Namen wie Bernhard Fuchs, Jitka Hanslova, Albrecht Tübke, Göran Gnaudschun u.a. Biografisch haben alle einen Ost-Hintergrund, bedienen sich aber der zeitgemäßen Farb-Bildsprache.
Neben den grandiosen Erfolgen der aus der westlichen Konsumwelt kommenden Modefotografen Wolfgang Tillmans und Juergen Teller hat diese Porträtfotografie aber kaum öffentliche Beachtung gefunden. Welche Gründe gibt es dafür? Oder sind solche Erfolge in der ernsthaften künstlerischen Fotografie nur als absolute Ausnahme möglich (Beispiel: das Ehepaar Becher)?



Ulrich Görlich


Was heißt öffentliche Beachtung? Wenn auch Der Spiegel darüber schreibt? Bernhard Fuchs und Jitka Hanslova z. B. haben schon Beachtung gefunden in der Kunst und Fotografie. Wir sollten aufhören, Erfolg nur noch an den Superstars zu messen. Ihr wirtschaftlicher Erfolg steht nicht immer im Einklang mit ihrem Beitrag zur Entwicklung von Kunst und Fotografie. Z. B. bei der zweiten Generation der Becher-Schüler sehe ich da ein großes Missverhältnis. Es sollte eine andere Rangliste geben: Entsprechend der Bedeutung für die nachfolgenden Generationen. Welcher Künstler war für ihre Entwicklung als Künstler wichtig?



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Über aktuelle Tendenzen der letzten Jahre sollten wir nicht spekulieren… In diesem Zusammenhang erscheinen mir aber Stimmen bemerkenswert, die die "Fotografie“ als künstlerischen Begriff als gescheitert ansehen, sozusagen das Ende der Fotografie in der Kunst einläuten.
In einem Beitrag von Walead Beshty über die Fotografie von Annette Kelm in der Zeitschrift "Parkett" (Nr. 87, 2010) sind harsche Töne zu hören: Erkenntnistheoretisch wurden Bilder auf Plakatwänden, in Büchern, auf Computerbildschirmen, in Zeitschriften und auf Silbergelatineabzügen durchweg der Fotografie zugeordnet. Dies trotz der extremen Unterschiede ihrer materiellen Beschaffenheit und Verbreitung. Kurz, sie sind alle gleichwertig, weil sie nur noch als reine Abbilder funktionieren. Durch diesen seltsamen Umstand war die Fotografie in den späten siebziger Jahren zu einer vollkommen polarisierten Domäne der Kunst geworden….; mittlerweile hat sich die der Fotografie einst zugeschriebenen vordringliche Bedeutung für die politische Diskussion erledigt und wurde zusammen mit anderen unerledigten Angelegenheiten unter den Teppich gekehrt. Infolge dieser Pattsituation scheint die fotografische Produktion in der Kunst unter einer seltsamen Attacke selbstverschuldeter Amnesie zu leiden: Statt einen Zweck zu dienen, parodiert sie das Zweckdienliche, lässt jede revolutionäre Ambition zugunsten des Piktorialismus einer vormodernen Auffassung der schönen Künste fahren und reiht sich selbst in die Tradition des autonomen Kunstobjekts oder in das taxonomische System des Archivs Dokuments ein, womit sie sich blind der vollkommenen Demontage ihrer Zweckdienlichkeit fügt.
Walead Beshty kommt dann zu dem Ergebnis, dass die Benennung aller Bilder, die technisch hervorgerufen werden, auf Fotografie beruht, daher Fotografie als technisch überholt und ästhetisch verfehlt aufgegeben werden müsse. Der ganze theoretische Diskurs darüber sei "Spätwerk“ und nach Theodor W. Adorno „Zeugnis der Ohnmacht, Ausdruck nackter Selbstdarstellung gegenüber dem Gegenstand der Untersuchung, die selbst schweigt.“
Was ist das? Hat sich im Zeitalter der flächendeckenden Schnappschussfotografie á la Handy und Co die Fotografie in der Kunst mangels Substanz wieder abgemeldet?



Ulrich Görlich


Gilt das nur für die Fotografie? Mir scheint, "revolutionäre Ambitionen" sind nicht gerade aktuell in den Künsten generell. Das ist kein fotografie- spezifisches Phänomen, sondern scheint mir ein gesellschaftliches zu sein.



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Sicherlich haben die neoliberalen Jahrzehnte zu eine ausgebrannten kulturellen Situation geführt. Die offizielle Devise: “Kunstmarkt gleich Kunst“ konnte nur in eine Sackgasse führen.
Wenn ich aber Walead Beshty richtig verstehe, gilt für das Medium Fotografie in der Kunst und Theorie doch etwas Besonderes. Was bisher unter „Fotografie“ verstanden wird, war jedes mit technischen Mitteln hergestellte Bild, das als „Abbild“ irgendeiner Form der Wirklichkeit gelten konnte. Darüber gibt es dann anhaltende theoretische Diskurse, wobei jeder dieser Theoretiker den Betrachtungsgegenstand – die „Fotografie“ – überhaupt nicht definiert haben, es also kunterbunt durcheinander geht.
Auf der anderen Seite sieht Beshty in der Fotografie, die als autonomes Kunstwerk behandelt wird, den Verlust des zentralen Gedankens der Fotografie, „Bilder mit einer Kamera“ zu produzieren. Ist das nicht vielleicht ein Ausdruck einer Umbruchsituation? Nach einem praktischen und theoretischen Debakel muss aufgeräumt und neu orientiert werden?



Ulrich Görlich


Den Unterschied sehe ich immer noch nicht ganz ein! Richtig scheint zu sein, die Fotografie hat ihre Sonderstellung verloren. Das bedeutet ja gerade erst recht, dass sie an keinen anderen Maßstäben gemessen werden kann als die anderen Medien der Kunstproduktion. "... zugunsten des Piktorialismus einer vormodernen Auffassung der schönen Künste fahren und reiht sich selbst in die Tradition des autonomen Kunstobjekts ein", das ist keine nur für die Fotografie zutreffende Kritik.
Der Verlust der Sonderstellung geht für mich auch nicht einher mit dem Grundanliegen der Fotografie, Bilder mit der Kamera zu produzieren. Wie kommt er denn darauf? Becher-Schule und die meisten anderen interessanten Fotografen produzieren immer noch Kamerabilder, trotz oder gerade wegen Photoshop.
Die Theorie hat bisher noch keine schlüssige Theorie der Fotografie hervorgebracht und ich bin ein Skeptiker betreffend der grundsätzlichen Veränderungen, die von dieser Seite immer wieder "entdeckt" oder ins Feld geführt werden. Die Art und Weise, wie Fotografien betrachtet und aufgefasst werden, hat sich trotz aller technologischen Fortschritte als außerordentlich konstant erwiesen, geradezu hartnäckig! Mir gefällt das.



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Vielen Dank für das Gespräch!



Das Gespräch führte Thomas Leuner



Anmerkung: Der Beitrag von Esther Ruelfs ist erschienen in "Zeitgenössische Deutsche Fotografie. Stipendiaten der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung", hrsg. von Ute Eskildsen, Esther Ruelfs, Ausst. Kat., Folkwang Museum, Göttingen 2003, S. 12–29.

29.12.2010


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Schlagworte: Esther Ruelfs, die zeitgenössische deutsche Fotografie, pictures on demand, bild und kontext