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Blog zur zeitgenössischen Fotografie
und digitalen Bildkunst
 

 
von Thomas Leuner

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Was sind die Besonderheiten des Materialverlages?


Thilo Koenig
Der Materialverlag-HFBK ist eine eigenständige Abteilung im Lehrgebiet des Studienschwerpunktes Grafik/Typografie/Fotografie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg (früher: Visuelle Kommunikation). Er ist aber kein 'Hochschulverlag' im engeren Sinne, sondern Teil des Lehrangebots.
Der Materialverlag bietet kein stringentes Programm, sondern ist als publizistische Plattform vor allem für Studierendenprojekte gedacht. Unser Buch soll die Geschichte des Verlages seit 1972 nachzeichnen, der sich ursprünglich aus einer Art Selbsthilfemodell zur Verbreitung von Unterrichtsmaterialien und zur publizistischen Intervention in die Gesellschaft gebildet hatte und heute seinen Schwerpunkt auf Künstler- und AutorInnenbüchern hat, mit einem starken Schwerpunkt im Fotobuch.


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Ihre Aufgabe umfaßte nicht nur das Wirken des Materialverlages nachzuzeichnen, sondern auch dessen archivarischen Bestand zu sichern und für die Zukunft zu werten. Wie hat sich das Projekt im Laufe der Arbeit entwickelt?


Thilo Koenig
Das Projekt begann 2002 mit der Anfrage, die bis dahin rund 130 erschienenen material-Titel zu sichten und auf Basis von Gesprächen mit den Beteiligten einen retrospektiven Text zu schreiben. Zum damaligen Zeitpunkt war der Fachbereich Visuelle Kommunikation im Umbruch, und auch die Zukunft des Verlages als Bestandteil der künstlerischen Lehre mußte neu definiert werden – und man wollte im Sinne der Selbstvergewisserung auch Rückschau über die eigene Entwicklung halten.
Es hat sich dann schnell gezeigt, daß zum einen das Verlagsarchiv unvollständig und wenig organisiert war, es fehlte ganz einfach auch eine Gesamtliste der Produktionen, die zeitweise auch sehr frei entstanden sind und von mehreren verschiedenen Dozierenden betreut wurden. Zum anderen wäre ein Text allein kaum den im historischen Verlauf sehr unterschiedlichen Publikationsanlässen und der daraus resultierenden großen formalen wie thematischen Vielfalt gerecht geworden. Wir beschlossen deshalb relativ früh, daß auch ein kommentierter Katalog von beispielhaften Publikationen notwendig war, mit Abbildungen der aufgeschlagenen oder aufgefalteten dreidimensionalen Buchobjekte.
Vorbild waren hierfür natürlich die gerade in den letzten Jahren erschienenen Publikationen zum Künstler- und Fotobuch oder überhaupt zum gedruckten Foto. Hier wurde ja endlich einmal auch das Haptische, Objekthafte von Büchern verdeutlicht, indem man nicht mehr einfach beschnittene flache Reproduktionen von Doppelseiten abgebildet, sondern auf einer Fläche liegende aufgeschlagene Bücher fotografiert hatte, mit hochgewölbten Seiten, Schatten, Gebrauchsspuren usw. Und die Hochschule setzte sich daran, zunächst eine Filemaker-Datenbank mit der bibliografischen Gesamtaufnahme aller Titel zu erstellen, die dann in den Index im Buch einging. Die bis heute weitergeführte Datenbank ist auch auf der Homepage des Materialverlages einsehbar: material-verlag.hfbk-hamburg.de/index.php (dort die Rubriken "Gesamtverzeichnis" und "Archiv").


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Eine Publikation über den Materialverlag weckt natürlich auch gewisse Erwartungen in das Konzept des Buches. Wie sieht es aus?


Thilo Koenig
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die jeweils durch eine Titelseite gekennzeichnet sind (auf ein Inhaltsverzeichnis wurde angesichts der einfachen Struktur und aus gestalterischen Erwägungen verzichtet; eine Übersicht der Kapitel mit Seitenangaben steht nur im vorderen Klappentext). Unter "Geschichte" findet sich der Haupttext über die Verlagsgeschichte, "Katalog" stellt über fünfzig kommentierte und jeweils mit mehreren Abbildungen illustrierte monografische Buchtitel sowie Buchreihen vor, und "Index" ist ein Gesamtverzeichnis aller bis 2006 erschienenen 257 material-Titel, mit Angaben zu AutorInnen und BetreuerInnen, zu Format, Seiten- und Abbildungszahl, herstellungstechnischen Details wie Schrift, Satz, Druck und Bindung, Auflage und Lieferbarkeit.
Eine Besonderheit des Haupttextes ist, daß hier ein von Beginn an grundlegendes Arbeitsprinzip der Verlagsarbeit gewissermaßen wörtlich genommen wurde: der Schwerpunkt auf dem Arbeiten mit vorhandenem 'Material', das beim Verlag sowohl dokumentarisches wie auch künstlerisches Material sein konnte. Es war deshalb von Beginn an klar, daß der Text vor allem aus den Interviews mit den Beteiligten heraus erarbeitet und strukturiert werden sollte, also aus dem Originalton-Material der Zeitzeugen – auch in Anlehnung an Methoden der Oral History. So kam es zu zwei verschränkten 'Textspuren' im Geschichtsteil, die auch typografisch durch Punktgröße und Einzug unterschieden sind: einer eigenen Überblicksdarstellung von außen und einem polyphonen 'Chor' mit Originalzitaten von innen, aus Gesprächen und Fragenbogenaktionen. Diese Textmontage wird zudem noch von Abbildungen ausgewählter Bücher und weiteren Zitaten in der Randspalte begleitet; hier kommen vor allem Theoretiker vor, die für die Publikationsarbeit einflußreich waren, v.a. Tretjakow, Brecht und Benjamin, oder Kommentare von den Produzierenden selbst, also Studierenden, die ihre eigene Buchherstellung kommentieren.


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Was wurde 1972 unter dem Begriff „Material“ verstanden und wie wurde die Fotografie in dieses Konzept mit einbezogen?


Thilo Koenig
Mit "Material" war zunächst eher Informations- und Lehrmaterial gemeint. Der Beginn der Editionsarbeit an der HFBK steht ja in unmittelbarer Nachfolge von '68 und der politischen Ideen einer 'Gegenkultur', also auch von Versuchen alternativer Medien- und Veröffentlichungsarbeit. Gleichzeitig kam ein grundlegender Studienreformprozeß in Gang, der zur Abkehr von der alten Klassenstruktur, wie sie an den Kunsthochschulen damals üblich war, und zur Gründung des Fachbereiches "Visuelle Kommunikation" geführt hatte, in dem unter anderem die Bereiche Gebrauchsgrafik, Fotografie und Typografie aufgingen. Dieser Fachbereich hat sich lange Zeit als Speerspitze einer engagierten und inhaltlich (nicht kommerziell) angewandten Gestaltungsarbeit an der HFBK verstanden – gegen die traditionelle Auffassung von Kunst und Kunst-Lehre. Noch in den 80er Jahren bestand dieser Kontrast an der HFBK zwischen Visueller Kommunikation und der Freien Kunst, man denke nur an die Auseinandersetzungen in der Zeit von Adrienne Goehler als Präsidentin.
"Material" besagte in jener Anfangsphase einfach einmal, sich Unterrichtsmaterialien, die viel zu langsam in Lehrbücher Eingang fanden oder dort überhaupt nicht ankamen, selbst zu vervielfältigen. So sind die frühen Hefte etwa der Farb- und Filmtheorie gewidmet, aber auch den Studienreformprozessen. Zu Beginn dachte man auch eher an eine Art Publikationsfolge mit einem einheitlichen Obertitel, weshalb es zu dem zunächst verwendeten Standardformat DIN-A4, dem Titelschriftzug material und einer fortlaufenden Numerierung der Hefte kam, was dann – später nur noch im Impressum – als Reihentitel und Nummer bis heute beibehalten wurde.
Sehr schnell war "Material" aber auch an gesellschaftliche Aktivitäten von Hochschulmitgliedern draußen gebunden, also zum Beispiel Bürgerinitiativen zur Sanierungs- und Sozialpolitik. In den material-Heften wurden Berichte, Stellungnahmen oder politische Forderungen von Initiativgruppen publiziert – und hier kam die Fotografie ins Spiel.
Schon in material 7 (1973) wurde ein Bericht zur Stadtteilsanierung in St. Pauli mit ganz eigenständigen Schwarzweiß-Fotografien von einer beteiligten Studentin illustriert, die z.T. fast ganzseitig gedruckt wurden und zum ersten Mal auch einer visuellen Darstellung Gewicht verliehen. Kurz darauf wurden Aufnahmen des Professors für Fotografie, Kilian Breier, und seiner Frau Inge Breier, die ihre eigene Teilnahme mit ihren Kindern an Aktivspielplatz-Initativen fotografisch begleitet hatten, im Zusammenhang mit kommunalpolitischen Kampfschriften publiziert – Bilder, die im Gegensatz zum eigentlich ja funktionellen Nutzen dieser material-Titel einen ganz eigenen, auch konzeptionellen fotografischen Wert haben.
Nach einigen Heften, in denen die Fotografie oder Fotomontagen doch überwiegend im Dienste der Heftinhalte stehen sollten, kam es erst 1978 zu einer selbständigen Fotoveröffentlichung, die aber auch wieder ganz typisch für die an sozialen Fragen und am Alltag orientierten Arbeitsansätze an der HFBK in den 70er Jahren ist: Eine Studentin hatte einen Zirkus begleitet und im Sinne der beobachtenden Teilnahme tagebuchartig fotografiert.
Hier wurde zum ersten Mal der Materialbegriff auch auf AutorInnen-Material und einen persönlichen, autobiografischen Blick ausgeweitet. In der Folge haben dann immer mehr Studierende auch diese Möglichkeit genutzt, eigene Bildstrecken oder Bild-Textarbeiten im Materialverlag zu produzieren, und Fotografie war hier jeweils ein wichtiges Medium. Dabei sind noch nicht einmal alle die Abschlußarbeiten, auch aus dem Bereich Kunsterziehung, die damals mit Fotografie aus ähnlichen inhaltlichen Interessen entstanden, auch publiziert worden. Heute versteht man unter "Material" tatsächlich überwiegend das künstlerische oder fotografische Material, welches Studierende herstellen und in eine publizistische Form bringen möchten.


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Da die Serie „material“ bis 2006 allein 257 Titel umfaßte, reflektiert sie im besonderen Maße die Entwicklung der Fotografie und ihrer Verwendung im Medium Buch. Wie läßt sich diese Entwicklung mit Beginn durch die funktionale Fotografie genauer beschreiben?


Thilo Koenig
Am Beginn hatte Fotografie für die Produzierenden der Hefte eben in erster Linie einen Informations- und Dokumentationswert, selbst wenn dabei schon früh in Einzelfällen auch sehr eigene Handschriften sichtbar wurden. Im Normalfall aber legte man vor allem Wert auf den Inhalt, möglichst wenig auf die Form. Bilder mußten Solidarität ausdrücken und durften keinesfalls zu ästhetisch sein, das wäre schon verdächtig nahe an der kommerziellen Welt gewesen.
Es ging um eine direkte "Operative Medienpraxis" im Sinne der Sache oder um "Mediale Berichterstattung"; so hießen zwei der wesentlichen Studienschwerpunkte. Ich sehe hier doch eine unmittelbare Parallele zu vielen Ansätzen der 70er Jahre, die gewissermaßen eine Fotografie 'ohne Autor' oder 'ohne Kunst' realisieren wollten, wo die AutorInnen sich bewußt zurückzuhalten versuchten, um 'die Sache selbst' sprechen zu lassen.
Solche Ansätze haben damals etwa Lewis Baltz oder Michael Schmidt ganz eindeutig formuliert. Das zeigte sich ja dann in der Fotografie der 70er Jahre (natürlich weniger bei den Letztgenannten) in vielen Bildern, die einfach nicht mehr im traditionellen Sinn auf den Punkt gebracht waren, zu offen waren, um einen Inhalt auch gestalterisch zu präzisieren. Oft war der Blickwinkel einfach zu ungenau, es war zuviel auf den Bildern, das Weitwinkel als Synonym für das Nahe- Drangewesensein wurde häufiger als früher verwendet. Auch die Mode in jenen Jahren des Mitvergrößerns des schwarzen Negativrandes gehört dazu, die ja unter anderem als Geste der Authentizität gemeint war ("Das ist alles, was der Kamerasucher im Blick hatte: hier ist der Beweis des Bildrandes!"), – auch das könnte man ja kritisch als Hilfs-Rahmenlinie zum 'Zusammenhalten' der oft zu hellen und zu offenen Bilder ansehen.
Parallel dazu sollte man auch die Fotobuchästhetik anführen: Nach der heroischen Zeit der Fotobücher im Kupfertiefdruck, der ja bis in die 60er Jahre hinein vor allem noch bei Westschweizer Druckereien in hoher Qualität praktiziert wurde, gab es in den 70er Jahren mit dem Übergang zum Offsetdruck von Fotografien einen radikalen Absturz der Druckqualität. Das wurde erst wieder ab den 80er Jahren besser, als die Duplex-Druckverfahren aufkamen bzw. finanzierbar wurden und man den Schwarzweißdruck wieder differenzierter steuern konnte, und als man bessere Papiere und Bindungen verwendete. Auch beim Materialverlag wurde anfangs sozusagen 'grau in grau' gedruckt, natürlich aufgrund der vorhandenen bescheidenen Möglichkeiten, aber man wollte tatsächlich auch eine solche einfache Basis-Qualität!
Sie wurde als ehrlich, direkt und den Inhalten angemessen verstanden. Deshalb gab es in der Anfangsphase auch oft Umschläge aus grauem Aktenkarton.
Hier setzte eben doch in den 80er Jahren ein Umdenken ein, der AutorInnenstandpunkt und die Frage der Form wurden sehr viel ernster genommen. An der HFBK wurde eine Figur wie Johan van der Keuken ein wichtiges Vorbild, der niederländische Foto-, Fotobuch- und Film-Autor, der sich ebenso als politisch engagierterer Mensch verstanden wie auch intensiv an seinem künstlerischen Standpunkt gearbeitet hatte. Das Buch über van der Keuken, material 69 (1987), war hier eine ganz wichtige Wegmarke, eine regelrechte Monografie und zugleich auch das erste Buch im Materialverlag, das als Retrospektive einer außenstehenden Figur gewidmet war.
Auch hier kann man wieder Parallelen ziehen, am besten wieder am Beispiel von Michael Schmidt: Sein Buch "Waffenruhe" (1987) war sowohl mit seiner verrätselten, symbolisch und pathetisch aufgeladenen hochästhetischen Bildsprache als auch mit dem satten, schweren Duplex-Fotodruck und der Aufmachung, auch mit Ausklappseiten für triptychonartige Bildzusammenstellungen, eine zentrale Wendemarke.
Inzwischen sind wir in der Fotokultur wie im Ausstellungs- und Publikationsbetrieb ja soweit, daß es oft nur noch um die Form oder die visuelle Suggestivkraft der Bilder geht und Inhalte bei vielen AutorInnen kaum noch eine Rolle spielen.
Bilder und Bücher sollen mit ihrer plakativen Aufmachung Bedeutung suggerieren, sollen Emotionen, ein Zeitgefühl transportieren, kaum noch benennbare Inhalte. In Gesprächen mit Fotostudierenden heute kann man das oft beobachten, wenn etwa gesagt wird: "Das sind die Bilder! Das sind meine Bilder!" Ohne daß es noch als nötig empfunden wird, in irgend einer Weise zu verbalisieren, was denn vielleicht gemeint sein könnte, welche Haltung dahintersteht, was man eventuell noch mitteilen möchte.
Bei der Buchgestaltung entspricht dem das Arbeiten mit starken Kontrastmontagen oder den oft nach Vorbild der Illustrierten randabfallend gedruckten Bildern, die uns sehr direkt mit dem Bild konfrontieren; der Zürcher Verlag Scalo war hier ein wichtiger Vorreiter, gewissermaßen der 'Zeitgeist'-Verlag für Fotografie in den 90er Jahren.
Hier würde ich aber doch deutlich sagen, daß der Materialverlag sich diesen Tendenzen zum oberflächlich attraktiven und 'zeitgeistigen' Buch immer widersetzt hat: Die Lehrenden sind sicher erheblich unempfänglicher gegenüber Modeerscheinungen des Marktes. Insbesondere Hans Andree, Silke Grossmann, Jutta Hercher, Kilian Breier, Antje Eske, Wilhelm Körner, Beate Mohr, Philipp Pape, Gerd Roscher und Ralf Bacher haben auch jeweils versucht, in intensiver Auseinandersetzung mit den AutorInnen eine Form zu finden, die sowohl der Entfaltung in der dreidimensionalen Buchform als auch den Inhalten der jeweiligen Arbeit gerecht werden kann, ohne sich im Chic der Oberfläche zu erschöpfen.
An der HFBK hat es vielleicht auch weniger Tendenzen zu dieser typischen zeitgenössischen Fotoästhetik gegeben, die sich etwa in die Nähe der kommerziellen Welt, der editorialen, illustrativen Fotografie oder von Werbung und Mode begibt.
Diese Annäherung von 'freien' Fotoarbeiten an das Feld der angewandten Nutzung, zum Beispiel für Magazine und Firmen, und dieses unendliche Abarbeiten am privaten Alltag oder am eigenen Körper, was dann nicht nur in Fotobüchern publiziert wurde, sondern auch wieder Eingang in die Werbe- und Printwelt gefunden hat, war ja in den letzten 10-20 Jahren ganz wichtig, wenn man nur an Wolfgang Tillmans oder Jürgen Teller denkt. Darin unterscheidet sich die HFBK etwa von der ZHdK in Zürich, wo diese Trends immer stark zelebriert wurden.
In Hamburg sind die Themen und Bildstrategien mit Fotografie vielleicht auch deshalb meist etwas aussenstehender, oft auch reflektierter gewesen, weil man dort Fotografie nur im Verbund mit anderen Medien studieren kann, es gibt keinen eigenständigen Foto-Studienbereich. Und natürlich auch, weil die Lehrenden dort eine ausgesprochen kritische Haltung gegenüber solchen Tendenzen haben.
So kam es zu Büchern wie "Das finde ich am Strand" (Anna Reemts, 2006), einem "Strandgut-Nachschlagewerk" über angespülten Industriemüll in ironischer Anlehnung an die Reihe der Kosmos-Naturführer, und bei "Dickicht" (Sabina Simons, 2006) zur Montage gefundener und fotografierter 'Readymades', von Repros krauser Manuskriptseiten und Nahsichten von Gestrüpp. Oder zum "Kassenbonwortschatz nach Sachgruppen" (Susann Körner, 2009), einer philologisch-lexikalischen Klassifizierung der Abkürzungen auf Supermarkt-Kassenbons, was eine eigensinnige Wissenschaftspersiflage und zugleich ein Konzeptkünstlerbuch ist.


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Die Freiräume in der Lehre sind besonders geeignet, um zu experimentieren: Druck, Typografie, Montage, Objekte bis hin zum Booklet sind die kreativen Variablen. Wie sind die Ergebnisse?


Thilo Koenig
Das kann man nur in zwei Richtungen beantworten. Zum einen wurde mit den vorhandenen, teilweise improvisierend genutzten Mitteln sehr kreativ und vielfältig experimentiert. Unter anderem nutzte man Maschinen für ganz andere Zwecke um, so zum Beispiel eine einfache Tigel-Druckmaschine, auf der Papiere und Kartonagen gefalzt und gestanzt wurden, in immer wieder neu ausgelotetem Erfindungsinteresse. Dasselbe gilt für die Buchformen, es gab Leporellos, Plakateditionen, Mappen, Schuber und mit separat gedruckten Beiträgen gefüllte Kartons. Oder es wurden 'offene' Formen wie Leitz-Ordner mit abgehefteten Einzelblättern produziert, die der Leser nach eigenem Gutdünken neu zusammenstellen konnte: das wurde als eine 'demokratische' Buchform begriffen, wo der Rezipient nicht mehr auf eine festgeschriebene Lesart und Abfolge festgelegt war, sondern selbst aktiv werden konnte.
Es gab die unterschiedlichsten Formate und Ausstattungsmerkmale, es wurde fast jedes Mal wieder das Rad neu erfunden, um eine den Arbeiten gerecht werdende Umsetzung zu entwickeln.
Weiterhin war auch das Zusammenspiel von Fotografie, Grafik, Typografie und Druck wichtig. Wer ein Buch machen wollte, hatte es meist mit mehreren dieser Fachleute zu tun und bekam Anregungen und Kritik von verschiedenen Seiten. Als dann die Ansprüche an die Druck- und Verarbeitungsqualität stiegen und der Verlag sich in den 90er Jahren immer mehr auch an kostspielige Projekte wagte, wurde auch der Aufwand für jedes Einzelvorhaben entsprechend immer größer.
Gerade im Gebiet der Fotografie führte das zu Versuchen mit Duplexdruck, der in einem Fall im Haus sogar eigenhändig realisiert wurde – auch das gehörte ja zum Selbstverständnis der Arbeit in der Visuellen Kommunikation und im Materialverlag: Daß man alles selbst machen wollte, von den Vorlagen über den Entwurf bis zum effektiven Druck, manchmal sogar bis zum eigenverantwortlichen Vertrieb der Bücher.
Seit den 90er Jahren stehen die Studierenden auch selbst zunächst auf der Frankfurter Buchmesse, jetzt in Leipzig, und vertreten ihre eigenen Bücher. In einigen Fällen wurde ein ausgesprochener Druckspezialist wie der Berliner Dieter Kirchner hinzugezogen, der die Lithos für den Fotodruck anfertigte, im kollegialen Austausch selbstverständlich, das hätte sich der Verlag offiziell kaum leisten können. Zum anderen war es aber auch eine der Leitideen von Hans Andree, dem ehemaligen Typografie-Professor an der HFBK, der lange Zeit die verbindende Figur für den Verlag war, Sammeleditionen zu produzieren. Daran konnten sich mehrere Studierende beteiligen, zum Beispiel ein ganzes Seminar, die alle einen kleinen Einzelbeitrag produzierten, was natürlich ebenso die Formenvielfalt innerhalb eines gegebenen Rahmens förderte. Hieraus wurde die Idee entwickelt, feste Reihenformate zu formulieren, statt wie bisher für jedes Einzelprojekt den ganzen Prozeß der Buchentstehung immer wieder von vorn abzuwickeln. Sie sollten viele Grundsatzentscheidungen über Format, Form, Umfang und Ausstattung von Büchern vorwegnehmen, mußten gleichzeitig aber als Gefäße noch offen genug sein, um eine individuelle Gestaltung und eigene Realisierung möglich zu machen.
So kam es zu den Editionen, die vor allem mit Fotografien (edition fotografie, seit 1999) und Zeichnungen (edition zeichnung, 1999-2006, Relaunch 2009). Die Vielzahl der unterschiedlichen Realisierungen zeigt deutlich, daß ein festes Format kein Hindernis für ausgesprochen eigenständige Lösungen sein muß. Zudem wurden hier auch in der kreativen Ausnutzung der Drucktechniken neue Wege beschritten; vor allem bei der edition zeichnung wurde analog oder digital gedruckt und wurden die Zeichnungen zwischen den einzelnen Druckschritten zum Teil noch weiterbearbeitet.
Hier ist das Heft oder Buch nicht die gedruckte Version einer vorab bestehenden Arbeit, sondern diese entstand im Gegenteil erst im Buchprozeß an den Maschinen selbst in dieser Form. Das gilt durchaus auch für die Fotografie: Auch hier wird weniger versucht, im Druck möglichst genau an die Vorlage heranzukommen, also die Charakteristik eines Originalprints nachzuahmen, sondern es wird ein Druckbild angesteuert, das eine Arbeit nur in dieser Ästhetik und in dieser Buchform wahrnehmbar macht.
Das Buch soll sich grundsätzlich unterscheiden etwa von der Hängung einer Ausstellung. Die Arbeit nimmt im Verlauf der Buchfindung eine diesem Medium entsprechende, nur in ihm zu verwirklichende Form an, das Buch ist dann sozusagen das 'Original', die von den AutorInnen definierte gedruckte Form einer Arbeit.
Mit den Editionen material xs (2002-04) und material korrex (2004-06) wurde sogar nur ein Druckbogen vorgegeben, der in verschiedenste Richtungen be- und verarbeitet werden konnte, bei xs innerhalb eines festen gefalzten Reihenformats, bei korrex war der Bogen vollkommen frei teilbar, konnte vom Plakat bis zum Postkartenstapel ganz unterschiedliche Formen annehmen.
Zukünftig wird aber der Trend auch an der HFBK wohl zu einer größeren Professionalisierung der Verlagsarbeit gehen; der Druck auf solche Abteilungen, stärker die ganze Hochschule nach außen vorzustellen und dem wieder gepflegter werdenden Erscheinungsbild der Akademien zu entsprechen, wächst sicherlich.


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Neu tauchen die Stichworte Plotten und Künstlerbuch im Standardformat auf. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?


Thilo Koenig
In der Herstellungstechnik werden im Materialverlag in letzter Zeit neue Wege gegangen, dazu gehören auch der Digitaldruck oder das Printing-on-demand. Gedruckt wird inzwischen fast nur noch außer Haus, so früher auch schon Farbfotografie, nur kleinere Sonderauflagen wie material xs und korrex wurden noch auf eigenen Maschinen produziert. Das war bis vor kurzem ganz anders, die traditionelle Heidelberger Offsetmaschine der Typografiewerkstatt wurde, wenn nicht wie zuvor auch von Studierenden oder Mitarbeitenden, lange Zeit von einem pensionierten Drucker betrieben, der im Auftrag projektweise im Haus druckte.
Viele Studierende haben ihre kleineren Publikationen mit Fadenheftung auch selbst von Hand genäht. Das Interessante an der Typografiewerkstatt der HFBK war ja auch immer, daß einerseits dort noch die gesamte Palette der Bleisatz-Ära vorhanden und grundsätzlich benutzbar ist, ja die Bleischriftensammlung wurde sogar in den 80er Jahren im technikarchäologischen Sinne noch bewußt ausgebaut. Auf der anderen Seite wurden hier aber in der Praxis der Produktion immer diejenigen neuen Techniken verwendet, zu denen man als Kunstschule schon Zugang bekommen konnte; das ist immer relativ, da öffentliche Hochschulen mit den ständig runderneuerten teuren Geräteparks der Profiwelt nicht mithalten können. Am Anfang war es das Kleinoffset-Verfahren zur Eigenherstellung von Drucksachen, heute sind das natürlich der Computer und die digitale Bildbearbeitung. Aber auch hier wird immer wieder versucht, diese Techniken gegen den Strich zu bürsten, also sie nicht nur im kommerziellen Sinn möglichst perfekt anzuwenden, sondern jeweils auszuloten, für welche Spannweite an Erfindungsreichtum sie daneben verwendbar sind, wie man den Spielraum der Prozesse kreativ nutzen kann.
Hier setzt auch die Diskussion um das Künstlerbuch an. Ein Künstlerbuch soll für den Materialverlag eben nicht ein gegebenes Transportvehikel für eine Arbeit sein, welches ein Werk vielleicht ideal in Katalogform vervielfältigt. Es sollte ein Buchobjekt sein, das eigenständig mit der anderen Lesart von Bildern in der Buchform umgeht, die unterschiedliche Handhabung einer Drucksache bewußt reflektiert, – anders als wenn ich eine Ausstellung besuche oder einen Stapel Bilder blättere. Als hier feste Reihenformate initiiert wurden, gab es natürlich auch Kritik: das sei eine zu große Einengung der künstlerischen Entscheidungen, ein Künstlerbuch müsse immer ganz frei und neu entwickelt werden.
Auf der anderen Seite ist der vorgegebene Rahmen offen für jede denkbare Layoutform und Bildabwicklung. Die realisierten Titel zeigen das auch: Es gibt statische Bild-Doppelseiten oder dynamische Abläufe, bei denen auch mit filmisch-sequenziellen Strecken gearbeitet wird, es gibt konzeptionell-didaktische Bildgegenüberstellungen wie auch subtil für jede Seite erarbeitete Bildplazierungen in bester Tradition des Fotobuches.
Es ging beim Materialverlag, und das ist vielleicht wichtig zu betonen, ja nie darum, mit den typischen 'Künstlerbüchern' im Sinne von Malerbüchern zu konkurrieren, die manchmal auch nur in Minimalstauflagen oder sogar als Unikate entstehen. Genausowenig hat man sich an den sogenannten 'Pressendruckern' orientiert mit ihrem Kult des Bleidrucks oder der handgeschöpften Büttenpapiere. Dort wird ja nur eine Qualitäts- und 'Materialkultur' im traditionellen handwerklichen Sinne gegen die Jetztzeit zelebriert.
Nein, beim Materialverlag ging es schon seit den 80er Jahren darum, jenseits eines Materialitätsfetischismus und jenseits des Künstler-Geniekultes AutorInnenpublikationen herzustellen, die trotz einer gewissen Auflage und des technischen Umsetzungsprozesses Ergebnisse eines sehr persönlichen künstlerischen Material-Dialoges sein können. Auch auf diesem Wege kann man ja zu eigenständigen plastischen Buchobjekten gelangen, ohne dabei hinter die jeweils zeitgenössisch vorhandenen Arbeitsmittel zurückzufallen.


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Vielen Dank für das Gespräch.


Das Gespräch führte Thomas Leuner


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Anhang


1. material.Materialverlag-HFBK Hamburg 1972–2006. Thilo Koenig. Material 275, Materialverlag 2009.
material-verlag.hfbk-hamburg.de/index.php


2. Thilo Koenig
www.zhdk.ch/index.php?id=826



28.12.2009